Der goldene Satz steht auf Seite 273 (von 302) und lautet: „Wir Männer sind Clowns, die vergessen haben, lustig zu sein.“
Er stammt von Jean-Patrick, der Hauptfigur, und drückt seine Erkenntnis nach 100 Tagen der Krise aus. Der untersetzte, mittelalte Autohändler aus der Provinz ist körperlich wie seelisch durch die Hölle gegangen und läutert sich zum „neuen Mann“.
Ihm wird bewusst, dass er seine eigenen Bedürfnisse vernachlässigt hat, weil er stets glaubte, sich seinem schroffen Vater beweisen zu müssen.

Einige Seiten später ist er soweit, seinem übermächtigen Vater am Telefon gestehen zu können, immer ein falsches Leben geführt zu haben – nur um ihm zu gefallen.
Ein Komiker hätte er sein mögen, aber ließ sich vom Vater in männliche Rollenkonventionen pressen, spielte Fußball wie alle Jungs (ohne das geringste Talent dafür zu haben) und übernahm die Firma des Vaters, obwohl er da nur Dienst nach Vorschrift schiebt

Männer sind Clowns, die vergessen haben, lustig zu sein
Das ist exakt auch meine Meinung, denn ein nackter Mann ist niemals schön, sondern hässlich oder lächerlich – wegen der Worscht, die ihm da unterm Bauch bömmelt!
Doch das Patriarchat hat Uniformen und Hierarchien erfunden, um diesen Naturzustand zu verschleiern und den Männern die Gewalt über die Mitmenschen zu sichern.
Dass Männer ihr komisches Potenzial entdecken und zum Gemeinwohl aller ausschöpfen, kommt selten vor.
Der Normalfall ist das Abfeiern peinlicher Posen und Rituale, mit denen der Band auch beginnt: Wir lernen Jean-Pat und seine Kumpels beim Grillen im Hinterhof kennen.

Und während Jean-Pat berufliche Erfolge bilanziert, lamentiert der Wutbürger Camille über seine Exfrau und seinen weibischen Vornamen, lässt sich „Cébé“ rufen und präsentiert stolz seinen in der Gürtelschnalle installierten Flaschenöffner.
Fitnesstrainer Jo ermahnt die ganze Gruppe zu mehr Körperertüchtigung und Stählung der Muskeln – und lockt mit Rabatten für sein Fitnessstudio „Hop Hop Hop“.
Sie alle ahnen noch nicht, welcher Schrecken über Frankreich am nächsten Tag hereinbrechen wird. Ein neuartiges Virus nämlich, dass bei Männern im besten Alter drastisch den Testosteronspiegel stürzen lässt und sie somit „enteiert“.
Auf dieser Seite prasseln die Nachrichten auf Jean-Patrick ein: Leistungssportler trifft es zuerst, dann Präsident „Puschtin“ (dessen Krieg womöglich das Virus entfacht hat!). Zeitgleich geht ein Song weltweit viral, in dem sich die Tänzer choreografisch an die Klöten packen.

Autor und Zeichner Luz, den wir vor einigen Wochen mit seiner Graphic Novel ZWEI WEIBLICHE HALBAKTE vorgestellt haben, präsentiert sich in TESTOTERROR völlig anders:
Er rifft auf dem aktuellen Zeitgeist und verquirlt französischen Alltag, Geschlechterklischees, die Sucht nach Erfolg und Selbstoptimierung, familiäre Strukturen, Tierliebe und selbst die Weltpolitik zu einem schrägen, knalligen und höchst amüsantem Comic.
Die Parodie auf die Pandemie
TESTOTERROR gestaltet sich über die Hälfte des Werks auch als Corona-Parodie mit lustigen Referenzen auf missachtete Lockdowns, verbotene Körperkontakte und abstruse Genesungsempfehlungen.
An einer Stelle heißt es sinngemäß: „Eine Hand nicht geschüttelt, zwei Eier gerettet.“
Eine Nebenrolle erhält der zwielichtige Gesundheitspolitiker Dr. Kracht, der in mir Assoziationen an Film-Nazis auslöst und der (als Testosteron-Ersatz) den Verzehr von Avocados propagiert.
Außerdem schwingt er Reden von einer lesbischen Weltverschwörung und hetzt gegen „die Frauen“ allgemein, die die Männer mit ihrer Kindchenschema-Tarnung zu Sklaven machen wollen.

Der „Testoterror“ ergreift die männliche Bevölkerung, löst Panik aus und wird zum Zündfunken für einen chauvinistischen Backlash, der auch Jean-Patricks Umgebung erreicht.
Fitnesstrainer Jo muss erst verunsicherte Freunde trösten und empfiehlt Zufuhr von Testosteron in Form von Pulvern und „Testocreme“, nach der einige süchtig werden.
Dann schwingt er sich zum „Life Coach“ hoch, gründet eine Männersekte und reüssiert als „Testo-Guru“ aller verunsicherten Kerle.
Seine Bewegung trägt Schwarzhemden und pseudofaschistische Symbole, die Luz zu Polohemden mit „HH“-Logo stilisiert. (Ein Schelm, wer dabei nicht an „Hop Hop“ denkt …)

Im Strudel der Veränderung
Jean-Patrick hat Familie, die auch prominent ins Bild gerückt wird. Zum einen Zwillinge im Grundschulalter, die nur Blödsinn veranstalten, zum anderen den Teenagersohn Jean-Claude, der sich seiner sexuellen Identität noch im Unklaren ist.
Als er gerade bereit für sein Coming-Out zum Schulfreund Cedric ist, wirft ihn die Testo-Pandemie aus der Bahn. Er gerät in die Kreise der Sekte, gibt sich den Kampfnamen „Van Damme“ und stylt sich zum Supermacker.
In folgender Sequenz wiederholt sich auf tragische Weise das Vater-Sohn-Problem, das eine Art Familienfluch der Boulards zu sein scheint.

Ich darf verraten, dass dieser verlorene Sohn in den Schoß der Familie (und der Vernunft) zurückkehren wird, nachdem er beinahe ein Attentat begangen hätte.
Die „HopHops“ planten unter Federführung des endgültig irre gewordenen Camille (alias Cébé), das Trinkwasser des Städtchen mit Testosteron zu überschwemmen – was aber sowieso Quatsch war, weil das Hormon nur unverdünnt seine Wirkung entfaltet.
Wie selbst Jean-Patrick weiß:


Immer weiter in den Vordergrund rückt auch Ehefrau Vanessa, die uns der Comic zunächst als für gute Stimmung sorgende Hausfrau und Mutter präsentiert.
Doch Jean-Patricks Krise und seine anhaltende Larmoyanz lassen bei Vanessa schließlich die Sicherungen durchbrennen.
Erst hinterfragt sie ihre eigene Rolle, dann ist sie mit ihrer Geduld am Ende, wäscht ihrem Männe ordentlich den Kopf, ergreift die Initiative und übernimmt sogar seinen Job!
Die Pandemie als Chance für längst überfällige „Égalité“.
Diese Seite präsentiert plakativ Vanessas Wutrede und Jean-Patricks Erkenntnis, dass er die eigene Frau kaum kennt:

Und dann ist da noch der Hund …
Wortwörtlich kommt das Personal dieses Comics auf den Hund, als Jean-Patrick eine liebenswerte Töle zuläuft, die ihm auch im Krankenhaus nicht von der Seite weicht.
Alle halten das Tier, das sie „Champion“ rufen, für seinen treu ergebenen Hund. Dabei war der dumme Köter vor sein Auto gelaufen und hatte einen Unfall verursacht – jetzt liegt Jean-Patrick mit Halskrause (und einem Rubula-12-Pandemie-Befund!) auf Station.
Im Halbschlaf fantasiert er übrigens von sich selbst als „Champion“, um sich Mut zu machen, trotzdem ein ganzer Kerl zu sein.

Und während das Herrchen seine Potenz verliert und auf Anweisung von Dr. Kracht sogar Pornos schauen soll, um die Testosteronproduktion anzukurbeln, bespringt Champion jeden Gegenstand im ganzen Haus und beschämt die Männerwelt durch sein sexuelles Stehvermögen.

Bald stellt sich die Frage, wer im Haushalt Boulard eigentlich die Hosen an- bzw. runtergelassen hat. Jean-Patrick muss sich von einer rabiaten Tierärztin sagen lassen, dass nicht mehr er der „Chef der Meute“, sondern Champion zum Alphatier geworden ist.
Luz strickt in seine umfassende Gesellschaftssatire auch Vergleiche mit der Tierwelt. So wie der Wolf in vielen Generationen zum Haustier mutiert ist und oft seine Umgebung dominiert, so ist der Mann als Herrscher auf dem Rückzug.
Denn das ist das Credo der Männersekte, die sich immer weiter radikalisiert und Workshops, Tagungen und Festivals organisiert. Hier versucht Jean-Patrick, in ein „Male Camp“ einzudringen – was ihm auch gelingt, weil die beiden dumpfbackigen Türsteher in einem Streitgespräch über Kevin Costner das Losungswort preisgeben:

Ich beende hier meine Inhaltsbeschreibungen, muss aber anfügen, dass ich Figuren ausgelassen habe. Es passiert parallel noch weitaus mehr – und Luz gibt sämtlichen Figuren ihren Raum.
Es gibt tolle Szenen und spaßige Exkurse zu entdecken und ich bin schwer beeindruckt, wie viel Zeit sich der Comic erlaubt (wiederholt: 300 Seiten!). Das hätte man kompakter gestalten können, aber zum Schluss fügt sich alles dramaturgisch rund und logisch auserzählt zu einem Feelgood-Finale, das einen kopfnickend zurücklässt.
Ein Citoyen und Clown
TESTOTERROR ist eine klare Ansage von Autor und Zeichner Luz, der in diesem Comic eine umgekehrte Heldenreise inszeniert: Ein den Konventionen unterworfener Macho wandelt sich zum empathischen Mitbürger.
Dieser brikettdicke Band ist von seiner Machart her erstaunlich vielfältig. Wie schon bei VERNON SUBUTEX macht Luz auf jeder Seite etwas Neues, darunter saukomisch wirkende Tableaus und Kapitel-Splashpages.
Schauen Sie unbedingt in mein Video, dort zeige ich noch einige Highlights.
Gut möglich, dass TESTOTERROR vielleicht nächstes Jahr auf Deutsch erscheint. Der Verlag ist nicht abgeneigt, das Sujet ist einem breiten Publikum vermittelbar – und es ist wirklich originell und abgefahren lustig.
Hier als Bonus noch ein Blick in Cébés Männerhöhle, wo der frustrierte Macho aus Baumarktmaterial futuristische Waffen schmiedet: Laubbläser-Bazooka, Gartenschlauch-Lasso und Heißluftpistolen gegen „radikalfeministische Horden, hysterische Lesben und attackierende Frisöre“.
Und der Hammer ist natürlich der Hammer auf dem Hammer.
