Wow, ist das hässlich!
Die Figuren, die Autor und Zeichner Nicolas Presl meist im Profil entwirft, sind krass anzusehen: die Augen kleben hoch oben in der Stirn, die Nasen wölben sich kaskadenförmig hinab und die Münder sind aufgeschnitten wie Obst.
Und was machen diese Gestalten? Sie tanzen!


Da sehen Sie unsere Hauptfiguren, ein mutmaßlich verheiratetes Paar ohne Namen, nennen wir sie „die Frau“ und „den Mann“. In einer Disco, irgendwo am Strand, seitenlang.
Sie sind ausgelassen, sie flirten, dann gehen sie raus, mal Luft schnappen. Und dort erstarren alle, denn aus dem Wasser zieht man eine mumifizierte Leiche.

Fiese neue Welt
Schnitt. Der Mann und die Frau sind nach Hause zurückgekehrt, in einen luxuriösen Gebäudekomplex, der wie eine kleine Privatinsel im Ozean schwimmt.
Was da draußen lauert, wissen wir noch nicht.
Erst mal erleben wir weitere Szenen des Dolce Vita bzw. Dolce far niente.
Der Mann und die Frau unternehmen mit einem Schnellboot eine Spritztour aufs Meer hinaus. Sie trinken dabei Alkohol, sie springen ins Wasser – und wieder wird ihr Vergnügen verdorben von einer Wasserleiche.


In einer nächsten Sequenz sehen wir den Alltag des Paars, eine „Hausangestellte“ tritt hinzu. Die Frau und ihre Bedienstete verstehen sich gut, der Mann schaut skeptisch auf diese Annäherung.
Und erneut bricht das Grauen herein, denn ein waschechter Zombie marschiert am Pool entlang und bedroht die beiden Frauen.
Der Mann greift zu einer Pistole und macht kurzen Prozess:



Niemand schenkt dem Horror im Folgenden besondere Beachtung. Alles ist wieder „in Ordnung“. Ein befreundetes Paar kommt vorbei und es entspinnt sich eine Privatparty mit Musik, Gesang und viel Dosenbier.
Man macht sich gegenseitig an, der Mann wird gegenüber der Hausangestellten zudringlich. Dann wieder ein Schock: Eine ganze Gruppe Zombies ist mit einem Boot angelandet und dringt in die Wohnung ein.


Das befreundete Paar fällt den Angreifern bald zum Opfer. Während die Zombies sich an den Luxusgegenständen und der Vorratskammer gütlich tun, können der Mann, die Frau und die Hausangestellte mit einem kleinen Luftgleiter aufs Festland fliehen.
Zwei Dinge fallen auf: Erstens benehmen sich diese Zombies doch sehr menschenähnlich und zweitens befinden wir uns offenbar in einer (näheren) Zukunft.
Mach mich zum Zombie
LA VILLE arbeitet mit diversen Methoden der Verfremdung. Diese Welt ist nicht die reale, sondern eine Parabel auf die unsere. Diese Figuren sind nicht, wonach sie äußerlich aussehen.
Denn nun bekommen wir ein komplettes Kapitel mit „dem Zombie“ präsentiert. In Rückblenden erleben wir das Leben eines der Angreifer von vorhin.
Der „Zombie“ schuftete als Hilfsarbeiter in der Stadt, ernährte sich in Garküchen, sammelte Dosenpfand, beteiligte sich an Plünderungen von Geschäften, protestierte gegen soziale Ungerechtigkeit, schlief auf der Straße und wurde drangsaliert von Neofaschisten.
Autor Presl verdichtet in dieser Figur alles Elend der Unterschicht. Er erzählt dies in ganzseitigen Tableaus, die mich an die sozialkritischen Groteskenbilder eines Otto Dix oder George Grosz erinnern.
Die folgenden zwei Beispiele laden ein zu Betitelungen wie „Ablenkung im Alltag“ und „Die Neofaschisten“:


Diese Einschubhandlung endet mit dem Tod der Figur in der Wohnung des reichen Paares.
Wir erkennen: Presls Zombies sind keine Hirnfresser, sondern die Entrechteten des Turbokapitalismus. Der Zeichner visualisiert seine Welt, seine Zweiklassen-Gesellschaft der Zukunft, durch eine „Zombiefizierung“ der Ärmsten.
Nun springen wir zurück zu unserem Trio, das ins Elternhaus der Frau geflohen ist. Ein ebenfalls luxuriöser Gebäudekomplex, der allerdings von bewaffneten Wachen vor der Außenwelt geschützt wird.
Im Kreise der Schwiegereltern versucht der Mann, wieder Tritt zu fassen, beginnt jedoch eine Affäre mit der Schwiegermutter. Die Frau hingegen fasst Zuneigung zur Hausangestellten, mit der sie gemeinsam die Außenwelt erkundet.

Als alle Fünf gemeinsam in die Stadt aufbrechen, werden sie nicht nur Zeugen der allgegenwärtigen Armut, sondern auch gewalttätiger Demonstrationen und bürgerkriegsähnlichen Aufständen.
Schnell verbarrikadiert man sich wieder in der Reichenfestung und hofft auf Ruhe …
Warum sagst du denn nichts?
Was weiter passiert, will ich nicht verraten – es ist auch sehr interpretationsoffen.
Presls Entscheidung, seine Werke stumm zu erzählen, öffnet natürlich Deutungsspielräume, die wir alle anders einrichten. Wir sind gezwungen, über die Bilder nachzudenken!
Ich bin überhaupt kein Freund von Comics ohne Worte, halte ich doch die Sprechblase für die schönste Erfindung der Kulturgeschichte.
Hier aber komme ich gut mit. Ich wundere mich zwar über die Redundanz mancher Sequenzen (ein Fitnesstraining von vier, ein Drogenrausch von 14 Seiten?), aber ein stummer Comic muss mehr Strecke bieten, um seine Stimmung und Attitüde zu entfalten.


Herr der Hässlichkeit
Es gibt wenig Infos über Nicolas Presl, obwohl der Zeichner und Autor seit knapp 20 Jahren bereits neun dicke Comicbücher vorgelegt hat.
Einige von diesen behandelten abseitige Themen wie griechische Antike oder Tiergeschichten, einige davon waren in schriller Schmuckfarbe illustriert.
Doch LA VILLE und das Vorgängeralbum LA JUNGLE von 2022 präsentieren zeitrelevante Themen wie Kapitalismus und Migration in klassischem Schwarzweiß – und mich wundert, dass diese Comics keinen deutschen Verlag gefunden haben.
Der Künstler gibt in einen Interview mit dem französischen Comicfachmagazin „dBD“ (Ausgabe Nr. 195/ Juli-August 2025) zu Protokoll, von der globalen Schere zwischen Arm und Reich erschüttert zu sein.
„Die Welt empört mich, das wollte ich im Comic ausdrücken. Der Untote verkörpert für mich die extreme Armut. Das Bild der Armen ist lästig und störend, wie das der Zombies in Filmen. Und doch beruht die gesamte Gesellschaft auf der Ausbeutung der Armen.“
Klare antikapitalistische Botschaft. Wiederholt: Es handelt sich in LA VILLE also nicht um echte Zombies, sondern um „zombifizierte Unterschicht“. Eine Bildchiffre, die uns verstören soll – denn sonst wäre dieser Comic entsetzlich banal.
Stellen Sie sich mal vor, alle Figuren hätten menschliche Züge, es wäre in seiner plumpen Nichtigkeit nicht auszuhalten.
Genau das kann man Presl auch vorwerfen: Allein der Zombietrick macht LA VILLE zum Hingucker!
Doch Presl kriegt mich mit seiner grafischen Vision.
Ich mag einen Comic hässlich finden, aber wenn ich ein illustratives Konzept konsequent verfolgt sehe, kann ich mich darauf einlassen und das Werk goutieren.
Presl zeichnet hochartifiziell und symbolhaft. Das kommt mir manchmal kitschig oder abgedroschen vor, aber seine verfremdeten Visagen verleihen dem Gezeigten eine neue Bedeutung oder eine behauptete Dringlichkeit, die mir einfach Eindruck macht.


Presls Inszenierung ist plakativ, ist deftig, ist auch fragwürdig.
Der Überfall der Zombies auf die Reichen hat mich unweigerlich an das Schreckensdatum des 7. Oktobers 2023 erinnert. Hätte mich sehr interessiert, ob die Anspielung gewollt ist. Die Frage hat man dem Autor leider nicht gestellt …
Ich denke, es ist Presls Absicht, uns im Unklaren zu lassen. Mit der Figur des Mannes geschieht noch etwas, was ich zunächst nicht einordnen konnte. Inzwischen denke ich mir meinen Teil und kann damit leben.
LA VILLE möchte uns vor den Kopf stoßen, indem es uns ein Leseerlebnis verschafft, das in der Tat nachhallt. Dieser Comic ist ein krasser Cocktail der Eigenartigkeit.
Ich mag so was ja. 310 Seiten!
Eigentlich müsste ich mein übliches Blättervideo ohne Worte drehen. Schauen Sie selbst, wie ich mich entschieden habe.