Fast eine Frechheit, doch dieser Comic gibt dem klassischen „Rotkäppchen“-Märchen einen True-Crime-Anstrich.
Dazu wird die Geschichte mit dem Wolf und dem Mädchen in unsere Gegenwart transferiert. Weißkäppchen (Capuche blanche) heißt die Hauptfigur hier, sie lebt in einem Haus im Wald mit ihrem Vater, der sich jedoch nur marginal um sie kümmert.
Sie erhält Unterricht durch Privatlehrer und Aufsichtspersonen, die Mutter ist vor Jahren schon abgehauen.

Einzige Bezugsperson und Ersatzmutter für Capuche ist natürlich die Großmutter, aber die wohnt weiter weg und wird deshalb nicht allzu oft besucht.
Also verkümmert der Teenager in seinem goldenen Käfig und verbringt seine Tage damit, Tutoren wie Monsieur Ortiz zu ertragen.

Es ist Winter und auf einem Spaziergang durch die verschneite Landschaft entdeckt Capuche eine Blutspur, der sie bis zu einer verlassenen Hütte tief im Wald folgt.
Dort findet sie einen verwundeten Wolf, der sprechen kann!
Der Beuteräuber gesteht ihr, der letzte seiner Art zu sein und droht ihr zugleich. Er habe unstillbaren Hunger nach Jagd und Fleisch – und könne nicht für ihre Sicherheit garantieren.


Doch Capuche ist elektrisiert von der Begegnung, ihr Leben füllt sich mit einer Aufgabe. Sie beginnt, den Wolf zu pflegen und mit Nahrung zu versorgen.
Beide erzählen sich ihre Geschichten und nähern sich an. Den Wolf aber verlangt es nicht nach Metzgereikost, sondern nach Großwild.
Capuche sorgt sich um seine vollständige Gesundung und begeht eines Tages spontan ein Verbrechen: Ein übergriffiger Holzfäller wird Opfer seiner eigenen Axt und der Wolf kriegt mal was Ordentliches zu spachteln.

Von Weißkäppchen zu Rotkäppchen
Die Dinge beginnen zu eskalieren: Weißkäppchen verliebt sich in den Wolf (auf einer platonischen Ebene) und macht ihn von sich abhängig.
Die junge Frau sperrt ihn in die Hütte und redet ihm ein, dass er draußen nicht sicher sei. Nun sitzt der Wolf im goldenen Käfig und Capuche beschafft ihm seine Lieblingsnahrung, indem sie auf die Jagd geht!
Camper, Radler, Spaziergänger und andere Naturfreunde werden zwar vermisst werden, doch die Reißzähne des Wolfs und das Versenken der Überreste im Fluss verwischen die Spuren.
Schauen Sie, wie griffig der Comic diese Entwicklung auf einer Doppelseite schildert: Das blutbesprenkelte Weiß von Capuches Anorak wird immer roter, bis sich unser Weißkäppchen in ein Mordkäppchen transformiert hat!

Der Wolf lässt sich diese Behandlung zwar gefallen, macht jedoch immer wieder klar, dass er sich nicht domestizieren lassen wird.
Er wird Capuche irgendwann verlassen, weil er nicht gegen seine Wolfsnatur handeln kann.

In diesem Moment erwacht in Capuche endgültg die Erinnerung an ihre wahre Natur: Es ist kein Zufall, dass die junge Frau weitab der Zivilisation aufwächst.
Keine selbstsüchtige Anwandlung der Mutter, dass sie die Familie verlassen hat. Keine Grausamkeit des Vaters, dass er seine Tochter auf Abstand hält.
Capuche ist eine Psychopathin, die seit Kindertagen isoliert wird.

Aus dem Märchen erwacht
Der Wolf und Capuche emanzipieren sich voneinander und tun, was sie tun müssen. Ich rede natürlich vom Tod der Großmutter, der sich auch hier ereignet. Ob den jedoch der Wolf verantwortet, da wäre ich mir nicht so sicher …
Meine Interpretation dieses Comics geht nämlich dahin, dass ich den Wolf für imaginiert halte. Ein sprechendes und denkendes Tier passt nicht in diese Welt. Der Wolf steht für die Wandlung des Mädchens zur Frau – die leider eine kaltblütige Mörderin ist.
Als am Schluss des Buches Capuche volljährig wird, dampft der Vater prompt ab, hinterlässt ihr das zustehende Erbe und unsere Hauptfigur geht hinaus in die Welt, um dort ihre mörderische Erfüllung zu finden.
Als weiteres Indiz für meine Lesart führe ich an, dass alle Figuren nur von außen beschrieben werden und funktionelle Namen tragen: der Vater, die Großmutter, Weißkäppchen, der Wolf.
Ein besonderer Clou am Ende ist, dass wir noch erfahren, von wem die Erzählstimme kommt, die uns allwissend durch das Werk geleitet hat – es ist Mutter Natur selbst, die uns als überirdische Instanz dieses aktualisierte Märchen aufgetischt hat.
Böse Wölfe gibt es nicht mehr, böse Menschen hingegen jede Menge.

CAPUCHE BLANCHE finden Sie im Internet zum Kauf auf einschlägigen Portalen wie Amazon, Ebay und Medimops.
Ich habe mich wieder für die Präsentation eines nur auf Französisch erhältlichen Comics entschieden, weil ich den Dreh der Geschichte interessant und das Artwork superb finde.
Autor Oscar Martin hat ansonsten die langlaufende Reihe SOLO gestaltet, eine Science-Fiction-Dystopie mit anthropomorphen Tieren (ein Teil davon ist vor 15 Jahren mal in „Zack“ gelaufen).
Der Zeichner ist ein hier unbekannter Katalane namens Josep August Tharrats Pascual, der unter dem Signet Tha firmiert. Der hat für das Magazin „Fluide Glacial“ etliche Kurzcomics der Rubrik ABSURDUS DELIRIUM illustriert, sonst offenbar nur CAPUCHE BLANCHE.
Ich stifte zur Würdigung seiner Zeichenkunst noch die (stumme) Szene, in der der Wolf wieder aktiv wird und wie ein Dämon auf sein Opfer hinabstößt:


Thas abstrahierender Strich und seine bonbonbunte Aquarellierung verleihen der Geschichte genau den Touch von Märchen, den sie braucht. Ein realistischerer Stil hätte die Atmosphäre des Werks beschädigt.
Wer mag, kann mit mir auf Instagram noch konkreter in das Werk hineinschauen.