EINE ORIENTALISCHE ERZIEHUNG vermittelt zärtliche Gefühle

Der Titel täuscht: Erzogen wird hier nicht viel und im Orient befinden wir uns auch nur phasenweise. Das ist auch nicht der Comic zum Libanon, in dem Autor und Zeichner Charles Berberian aufgewachsen ist.

Berberian ist prominent in der Comicwelt, obwohl er kein Signaturwerk abgeliefert hat. Er ist Illustrator und Katalysator bei vielen Projekten gewesen, auf Deutsch kennen wir nur MONSIEUR JEAN (bei Salleck und Reprodukt) sowie NATHANAËLLE bei Splitter.

Das Buch beginnt mit versprengten Skizzen zum Thema Corona während der Lockdowns in Paris 2020.

© für alle Abbildungen: Charles Berberian / Reprodukt

In diese Betrachtungen stehlen sich Assoziationen an frühere grafische Arbeiten und damit verbunden Erinnerungen an seine Besuche in Beirut.

Berberian floh 1975 vor dem dortigen Bürgerkrieg nach Frankreich, wo seine Familie ein Exil fand. Mehrfach kehrte er nach der Jahrhundertwende in den Libanon zurück  und hielt jedes Mal seine Impressionen in Aquarellen, Karikaturen, Porträts und Alltagsbeobachtungen fest.

Davon bekommen wir eine Menge zu sehen, ohne dass sich eine Erzählung entwickeln würde, hier zum Beispiel ein Verkehrschaos in Beirut.

Doch endlich bringt sich der Zeichner als Figur ins Bild und präsentiert sich uns in kurzen Comicepisoden als Flaneur durch sein Leben, als Suchender nach der Vergangenheit.

Immer wieder bespiegelt er sich selber an der Person seines großen Bruders Alain, der für ihn essenziell wichtig war. Denn die Eltern hatten die Söhne jahrelang bei der Großmutter untergebracht.

Die „Yaya“ war zwar fürsorglich, aber Alain öffnet Charles die Tür zur Welt – und auch der frankobelgischen und amerikanischen Comicwelt!

Die oben gezeigte Seite ist nicht bloß witzig und kreativ gestaltet, sie überrascht im letzten Bild auch mit einem konterkarierenden Schockmoment. Die Mutter chauffiert Charles an einer Hinrichtungsstätte im Irak vorbei.

Von dort stammt die Familie ursprünglich, ehe sie in den Libanon übersiedelte. Deshalb erleben wir auch keine weiteren Szenen aus dem Irak mehr, sondern Berberian fokussiert sich im Folgenden auf zwei traumatische Ereignisse der libanesischen Geschichte.

Das eine ist die Ermordung des populären Politikers Rafiq al-Hariri, das wir wahrscheinlich nicht mehr erinnern, das andere war eine Katastrophe, die mir noch im Gedächtnis war.

Am 4. August 2020 explodierten im Hafen von Beirut 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat und verwüsteten ein Drittel der Stadt.

Dieses historisch einschneidende Datum schildert er uns im Augenzeugenbericht des libanesischen Freundes Charbel, dann schlendert Berberian selber durch die Stadt und hängt seinen Gedanken nach:

Flucht in die Kunst

EINE ORIENTALISCHE ERZIEHUNG ist (wiederholt) nicht der Comic zum Libanon, es ist auch nicht die Graphic Novel zu Berberians Werdegang – es ist nostalgisches Skizzenbuch einer verlorenen Jugend und Ausweis des Könnens und der Vielseitigkeit seines Schöpfers.

Erwarten Sie keine durchlaufende Handlung. Es handelt sich hier um Anekdoten und Blitzlichter, teils sentimentale Momentaufnahmen eines künstlerischen Gemüts.

Der verehrte Kollege Timur Vermes vom Blog „Comicverführer“ hat meine Zustimmung, wenn er seine Besprechung mit den Worten beginnt: „Das ist mal ein richtig ratloses Buch. Fast chaotisch. Und ich kann nicht anders, ich muss es dennoch mögen.“

Ein Wort zur Stilistik: Höchst erstaunlich und beachtlich ist, dass Berberian das volle grafische Spektrum bedient.
Von moderner Graphic Novel über pure Aquarellmalerei und klassischen Semifunny bis hin zum Cartoonstil der Sechzigerjahre.
Auf dieser Doppelseite verzahnen sich die verschiedenen Ansätze:

Ich verstehe diesen Comic als tröstliche Flucht in die Illustrationskunst. Berberian zeichnet sich Dinge von der Seele. Die verstehen wir manchmal nicht, weil sie zu privat oder zu zeitgebunden sind – aber aus all seinen Bildern sprechen Einfühlsamkeit und Reflexion.

EINE ORIENTALISCHE ERZIEHUNG ist ein leises Buch, ein zartes Buch, das nicht runtergelesen werden kann, sondern erspürt werden sollte.

Zum Schluss wie üblich der Link zum Buch auf der Webpräsenz beim Verlag Reprodukt – sowie mein Blättervideo auf Instagram.