Lassen Sie sich nicht täuschen: Die surreale Coverillustration und der ironische Titel scheinen Komödie zu versprechen, auch weil der Autor für komische Werke bekannt ist. Doch es kommt anders.
Jan Blum nämlich ist ein Tausendsassa: Als ältere Hälfte des Cartoonisten-Gespanns Schilling & Blum hat er (mit Michael Schilling) bereits Bücher veröffentlicht. Unter dem Pseudonym „Jean La Fleur“ zeichnet er Kurzcomics für „taz“ und „Titanic“.
Unter seinem Klarnamen Jan Blum tritt er nun beim Jaja-Verlag als Macher einer Graphic Novel in Erscheinung: DAS GRAUEN DER KLEINSTADT heißt sie ominös und möchte eine „Tragic-Novel“ sein.
Den Spaß kann sich Blum nicht verkneifen, doch ich staune, wie verblüffend bitter sein Langcomic geraten ist. Wobei dies nicht die einzige Geschmacksnote ist. Sein Werk ist ebenso amüsant wie schwerelos, treffsicher wie skurril.
Worum geht’s?
Euskirchen Graffiti
In der westdeutschen Provinz schlägt eine Clique von Abiturienten und jungen Erwachsenen die Zeit tot. Es ist Wochenende, man langweilt sich redlich, man flachst herum und macht sich an. Dann zieht man sich Drogen rein, fährt Diskotheken ab und schaut, was mit dem anderen Geschlecht so laufen könnte.
Da sind die Freundinnen Jasmin und Sandra. Sie machen sich fein, sie „glühen vor“, sie gehen aus und treffen ihre Clique. Das ist der sportive Marco, der alles im Griff hat und mehr als nur freundschaftliche Gefühle für Jasmin entwickelt.
Das ist der Sprücheklopfer Strucki, der „nur“ auf der Hauptschule war und diesen Minderwertigkeitskomplex mit frechem Getue ausgleicht. Das ist der „Türke“ Hassan, der kein Türke ist, aber von allen so abgestempelt wird und bestenfalls als Dienstleister der Gruppe fungieren darf.
Über allem aber schwebt ein bedrückendes Ereignis: Kürzlich hat sich ein gemeinsamer Bekannter der Clique, Frank, aus heiterem Himmel in den Tod gestürzt. Die Motive dafür bleiben unklar, Autor Blum präsentiert mehrere „Flashback-Einschübe“, die Franks Ende in einer anderen Farbe, einem fahlen Rosa, präsentieren. (Sehen Sie im Video am Ende dieses Beitrags.)
Diese Rückblenden, einer verstorbenen Figur gewidmet, bieten allerdings keinerlei Erklärung, sondern vertiefen das Rätsel nur. Ein Aspekt, der dem GRAUEN DER KLEINSTADT eine Aura des Mysteriösen verleiht. Und das wird nicht der einzige bleiben.
Franks Selbstmord liegt allen auf der Seele, auch wenn flapsig damit umgegangen wird:
Das Driften durch die Nacht und das Sujet junger Menschen, die noch nicht wissen, wohin im Leben, erinnert an das große Filmvorbild „American Graffiti“.
Wer den Vergleich ziehen mag, wird erheitert sein, wie unglamourös diese deutsche Fassung daherkommt: Hier quetschen sich alle in ein Auto, hier gibt es nur Jägermeister-Shots und einen nächtlichen Frittenstopp bei „Mäckes“.
Autor Blum stammt aus Euskirchen in NRW (ein Ort, jeweils ca. 30 Kilometer von Köln und Bonn entfernt) und hat zu Protokoll gegeben, dass sein Stoff halbbiografische Züge trage.
Übrigens ist gar nicht sicher, in welchem Jahrzehnt sich DAS GRAUEN DER KLEINSTADT verorten lässt. Wahrscheinlich sind es die späten 1990er-Jahre (Blums Jugend), es könnten aber auch die „Tausender“ sein.
Zeitlose Qualität gewinnt das Grauen, weil es sich (von kleinen Anachronismen abgesehen) auch so anfühlt, als könnten es die 1980er-Jahre oder gar die Siebziger sein (über die ich alter Sack noch Zeugnis ablegen kann).
Diese Typen, diese ratlose Monotonie und auch diese als sinnlos empfundene Existenz sind die Markenzeichen vielleicht jeder Provinz, vielleicht aber auch aller junger Erwachsener um die 20 Jahre generell.
Ich muss gestehen, dass für mich Strucki die heimliche Hauptfigur ist: Er tritt auf, reißt die Gesprächsführung an sich, ist Autobesitzer und der wortwörtliche Motor des weiteren Geschehens (Diskosause, Pöbeleien, Gartenzwerge-Streich).
Dieser Strucki ist ein Ekelpott. Er ist ausländerfeindlich, obwohl er durchaus mit nicht-deutschen Menschen zu tun hat. Er ist sexistisch, er ist schwulenfeindlich, er ist ein Großmaul.
Dennoch ist Strucki kein schlechter Mensch. Er chauffiert seine Freunde, er spendiert Getränke, er ist auch nicht gewalttätig. Seine krawallige Art ist wahrscheinlich nur Fassade – und Blum gibt ihm memorable Momente.
So schläft er (mit Gartenzwergen kuschelnd) auf dem Autorücksitz ein, so lässt er perplex von einem potenziellen Opfer ab:
Struckis Machismo richtet sich nur gegen Gleichgesinnte. Er ist der kleinkarierte Schulhofrüpel, der sofort aus dem Konzept kommt, wenn etwas seinen Horizont übersteigt.
Warum ich über Strucki rede? Weil ich aus meiner Jugend solche Kerle kenne (tun wir das nicht alle?) und weil mir Blum mit dieser Figur eine Gänsehaut beschert. Ja, DAS GRAUEN DER KLEINSTADT sind auch die Menschen, mit denen man zu tun hat.
Hier hat Jan Blum fein beobachtet und ein Ensemble kreiert, das hoffentlich viele Leser*innen wiedererkennen: die „Dorfschönheit“ und ihre „pummelige Freundin“, das „Großmaul“ und der „Strahlemann“, der „Ausländer“ und der „Außenseiter“.
Letzteres sei mir Stichwort für das größte Mysterium in diesem Comic: die Figur des Vampirs!
„Isch bin ene Vampir“
Der taucht aus dem Nichts auf, wird von jemandem als „Marek sein Cousin“ identifiziert – und läuft von da an einfach mit der Clique mit. Der Vampir erhält niemals einen Namen, er begleitet die Freunde durch die Nacht, treibt sparsame Konversation (wenn angesprochen), lässt sich Getränke einflößen, tanzt jedoch nicht und bleibt im Ganzen äußerst passiv.
Er redet altertümlich, was alle für einen guten Gag halten. Er trägt sein Cape-Outfit, worüber sich niemand wundert. Er scheint offensichtlich in der Luft zu schweben, was niemand merkwürdig findet.
(Und am Ende passiert noch etwas, was ich weder verraten darf noch selber zu deuten verstehe.)
Jan Blum beendet sein GRAUEN mit einem großen Fragezeichen. Dieser Comic ist deutungsoffen und lädt zur Diskussion ein. Was geschieht wirklich in dieser Nacht? Welche Rolle spielen die Drogen, die unsere Freunde einnehmen und ihnen kurzzeitig Tiergestalten verleihen? Was wusste Frank, was die anderen nicht wissen?
Meine letzte Betrachtung gilt Blums Artwork, das in seiner Absonderlichkeit diesem Stoff ideal angemessen ist. Seine Menschen sind klobige Silhouetten, nur minimales Gestrichel und Gekringel zaubert ihnen Augen, Nasen und Frisuren.
Das ist Blums Herkunft aus dem Cartoon geschuldet, beweist aber, dass sich mit einem solchen Stil auch eine längere Comicerzählung bewältigen lässt. Zugleich kaschieren seine schrulligen Illustrationen, dass wir es oft nur mit „talking heads“ zu tun haben.
DAS GRAUEN DER KLEINSTADT lebt von seinen pointierten Dialogen. Sähen die Figuren „normal“ aus, wäre der „Verfremdungseffekt“ (sag ich jetzt mal) nicht so gegeben. So aber stutze ich immer wieder – was geht hier eigentlich vor?!
So nebulös verabschiede ich Sie aus der Analyse eines Werkes, das in mir noch nachhallt.
(Wer übrigens mehr Grauen aus der Provinz will, hört sich den Song „Isch bin ene Vampir“ von den Höhnern an! Passt thematisch perfekt zur Lektüre, harhar.)
Den Autoreneintrag beim Jaja-Verlag (mit Leseprobe) finden Sie unter diesem Link.
Da ich selber in ähnlich provinziellen Verhältnissen aufgewachsen bin, erlaube ich mir ein grauenvolles Blättern durch das Buch: