Diese äußerst hübsch gestaltete Graphic Novel hat der Zeichner David Sala für sich selbst gemacht. Muss man ganz klar so sagen. Fragt sich: Was haben wir davon?
Schaun wer mal …
Salas Großväter waren beide erst Kämpfer gegen das Franco-Regime, dann als spanische Exilanten in Frankreich gegen den Hitler-Faschismus. Beide wurden von den Deutschen gejagt, der eine (Antonio) sogar gefangengenommen und in Mauthausen interniert.
Beginnen aber tut der Band mit Antonios Flucht aus Spanien, illustriert als märchenhafter Ritt über die Pyrenäen.
Diese Darstellung irritiert, ist aber Davids Fantasie entsprungen, der sich als Junge dieses Abenteuer wie folgt ausmalt:


Dann schildert Sala eine Begegnung seines jungen Selbst mit dem Großvater im Krankenhaus. Beim diesem Besuch erfährt Davids Mutter, dass ihr Vater Antonio nicht mehr lange zu leben hat.
Man holt den alten Mann nach Hause in die Familie, was uns der Band aber nicht mehr schildert. Wir springen sechs Monate in der Zeit voraus, Antonio liegt im Schlafzimmer aufgebahrt – und David sieht ihn als jungen Mann vor sich, gefangen in seiner schrecklichen Vergangenheit.
Nur sein Porträt aus Mauthausen bleibt zurück, als mahnendes Erbstück, das Davids Geist beschäftigt.


Sala zeigt uns sodann kunterbunte Szenen von seinem Schulalltag, vom Unterricht in der Klasse, von Radtouren mit den Freunden, von Diskussionen mit seinen Eltern und deren lebhaften Debatten über Politik, die sie untereinander führen.

David saugt all das in sich auf, versucht sich das Gehörte vorzustellen und kreiert aus seiner kindlichen Erfahrung heraus expressive Bilder aus dem Konzentrationslager.
Diese sind in ihrer Farbgebung völlig unangemessen und wirken verstörend auf uns, aber diese Graphic Novel leistet sich eine Form der Verfremdung, die historische Geschehnisse in neuer Darstellung aufbereitet.

DAS GEWICHT DER HELDEN ist ein Spiel mit Einbildungskraft, die sich im Lauf der Seiten auch verändern wird.
Seine Eltern beauftragen David mit der Mission, die Geschichte seines Großvaters Antonio weiterzutragen.

Man kann sich fragen, ob man Kinder bereits mit solchen Erzählungen belasten sollte.

Sala gibt darauf keine Antwort, sondern dokumentiert die Jahre des Heranwachsens stur weiter:
David hört Schallplatten, er nimmt mit dem Bruder Rap-Musik aus dem Radio mit dem Kassettenrekorder auf, er zeichnet Marvel-Comics ab – und er fiebert dem Fernseh-Großereignis des Jahres entgegen: die 3-D-Ausstrahlung des Horrorfilmklassiker „The Creature from the Black Lagoon“.
Aus dem dreidimensionalen Erlebnis wird leider nichts, weil im Haushalt nur ein Schwarzweißgerät vorhanden ist.
Umso bunter dagegen sind Davids Träume, die seine Vorstellung vom Holocaust mit der Ermordung eines Schulfreunds verschmelzen.

Dann stellt uns der Comic den anderen Großvater vor, bei dem David jede Woche vorbeischaut.
Josep war zurzeit der Nazibesetzung Frankreichs in der Résistance und kam einmal nur knapp mit dem Leben davon.
Eingeleitet wird diese Episode durch einen Dachbodenfund von Fotografien:

Eines Tages wurde Joseps Partisanengruppe verraten und eine Patrouille deutscher Soldaten nahm sie gefangen und war dabei, alle Männer an die Wand zu stellen.
Aus einem Reflex heraus wagt Josep eine kopflose Flucht, die ihm tatsächlich gelingt.


Ihnen fällt auf, dass Sala diese Erzählung bereits realistischer illustiert.
Die Farben sind weiterhin eigenwillig, aber Figurenzeichnung und Abläufe sind naturalistisch wiedergegeben.
Josep kann verletzt entkommen in sich in einen Unterschlupf der Résistance retten. All dem hört der Jugendliche David gebannt zu und speichert es in seinem generationalen Gedächtnis.
Nun springt der Comic erneut voraus und schildert uns den Illustrator Sala, der in Lyon Comiczeichnen studiert.
Auf der Suche nach Themen beginnt er, das Familienleben zu dokumentieren, hier sehen wir ihn rechts am Bildrand stehen, in der Hand einen Camcorder.

Nach dem Abschluss sucht Sala Arbeit im Comicgeschäft und ist in den nächsten Jahren an einigen Projekten beteiligt.
Die kenne ich zwar nicht, sind aber höchst real und können unter diesem Link eingesehen werden.
Das Finale des Bandes beschäftigt sich mit Salas Leben als Zeichner, dem guten Kontakt zu seiner Mutter und der Aufzucht der eigenen Kinder.
Die inszeniert er beim sorglosen Spiel in einer schwelgerisch-bunten Märchenwelt, in der es nichts Böses gibt. So wie er sich seine eigene Kindheit erhofft hat, ehe sie mit den schweren Schicksalen der Vorfahren befrachtet wurde.

Doch es deutet sich ein Verlust der Unschuld an: Tochter Tara entdeckt das Porträt ihres Urgroßvaters im Abstellraum hinter dem Atelier ihres Vaters. Natürlich fragt sie sich, wer das sein soll.
Und weil jedes Bild eine Geschichte beinhaltet, kann (und muss?) diese auch erzählt werden.
Doch auf welche Weise und zu welchem Zeitpunkt, das will gut überlegt sein.


Zeichne mir 700 Gemälde!
DAS GEWICHT DER HELDEN muss vom Inhalt nicht Ihr Ding sein, aber ich bin fasziniert, wie vielschichtig Sala sein szenisches Konvolut angelegt hat.
Es handelt sich beim ganzen Werk um versprengte Anekdoten in wilder Mischung und Gewichtung. Da steht Hochtragisches neben Superbanalem.
Es ist rückblickende Familienhistorie und zugleich vorwärtsgerichtetes Coming-of-Age-Narrativ.
Es ist wuchtige Geschichtsbewältigung und zugleich ulkige Retronostalgie.
Es schildert die Erblast der Tradition und zugleich individuelle Emanzipation dort heraus.
Diese Graphic Novel zeugt von politischem Verantwortungsbewusstsein, doch stellt zugleich die Methodik der Vermittlung infrage.

Was teilen wir Kindern von der Vergangenheit mit? Wie werden sie davon berührt? Womit belasten wir sie und auch uns selber?
Der kryptische Titel erschließt sich im Laufe der Lektüre. DAS GEWICHT DER HELDEN meint die übermächtige Vorbildfunktion der Vorfahren.
Was kann der Junge David dem entgegensetzen, diesem Erbe nacheifern?
Sala hat in langen Jahren eine grafische Selbsttherapie daraus gemacht. Das ist schön für ihn und auch schön für uns.
Mir gefällt die distanzierte Haltung des Comics, diese gewisse Uneindeutigkeit und doch Bestimmtheit, die nichts dem Vergessen überlässt.
Sals ist eine erstaunliche Gratwanderung gelungen, wie ich finde, und sie kommt in überbordender Aquarellkunst daher.
In diesem Buch ist jedes Panel ein Gemälde.

Und achten Sie mal drauf, wie Sala mit der Kamera umgeht. Meint: Welche Blickwinkel und Bildausschnitte er wählt und wie er sie arrangiert.
Das hat organischen Fluss, das ist so intuitiv „richtig“, dass wir uns keine andere Möglichkeit der Darstellung ausdenken mögen. Das ist so atmosphärisch wie abwechslungsreich.
Eine Wucht, um es mal banal auszudrücken.
Zum Schluss linke ich Ihnen die Verlagsseite bei Bahoe Books und blättere auf Instagram noch in den Band hinein.