Comic ohne Handlung: SHAOLIN COWBOY

Das geht. Comics ohne Inhalt sind produzierbar, finden aber selten ein Publikum geschweige denn einen Verlag, wenn es sich um experimentelle Werke im Grenzbereich der Neunten Kunst handelt.

Dass es auch anders geht, beweist Autor und Zeichner Geoff Darrow, der seit 20 Jahren seine Eigenpublikation SHAOLIN COWBOY herausbringt.

Gut, es gibt ein Handlungsmuster, eins (!), das sich immer wiederholt: Der Shaolinmönch wird angegriffen und weiß sich zu wehren. Das war’s. That’s all. C’est tout. Dieses eine Muster, over and over again.

Darrow selber hat zu Protokoll gegeben, dass er in Bildern denkt: Hat er Lust auf Quallen und Reptilien, denkt er sich solange ein Umfeld aus, bis er einige Seiten füllen kann. Zum Beispiel: Ein irrer Zwerg steuert eine fliegende Qualle durch die Wüste und greift den Mönch an, der sich dann wehrt. Fertig.

Dann folgt ein Komodowaran, der noch ein Hühnchen mit dem Mönch zu rupfen hat und greift ebenfalls an.
Der Mönch hat Schwierigkeiten, sich zu wehren, weil er gerade unter einem riesenhaften Hühnchen begraben ist.

Ehrlich, ich denk mir das nicht aus. Das sind nur Darrows  Visionen.

Später kommt der Mönch in die Stadt, wo er vom Bruder des Verrückten mit der Qualle angegriffen wird. Der verwandelt sich in ein monströses Krabbenwesen und scheint unbesiegbar, egal wie viele Körperteile ihm der Mönch abschneidet!

SHAOLIN COWBOY ist eindimensional und oft etwas mühselig, doch ich kehre immer wieder dahin zurück. Monatelang sage ich mir „Du brauchst diesen Comic nicht“, aber früher oder später kaufe ich ihn doch – obwohl ich die Handlung schon kenne!

Das liegt natürlich an der Zeichenkunst Geoff Darrows, der mich als Jugendlicher schon mit HARD BOILED fasziniert hat. Er ist der amerikanische König des Wimmelbilds.

Und wir reden hier nicht von Kinderillustrationen, sondern von prallen Tableaus aus Körpern und Maschinen im Prozess der Zerstörung!

Darrow hat eine perverse Freude an detailliertester Bildfüllung – was seinen Comics teilweise den Gehalt verleiht, den er inhaltlich verweigert.

Man kann unendlich gucken und staunen auf Darrows Seiten, das ist seine Magie.

Kommt ein Mönch ins Chinarestaurant …

So beginnt der ganze Ärger, wie wir in einer Rückblende erfahren. Der (namenlose) Mönch war zum Mittagessen in einem Seafood-Restaurant und verspeiste dort eine Handvoll Krabben.
Der Überlebende dieser Krabbenfamilie schwor Rache, nannte sich fortan „King Crab“, stählte sich in Kampfkunst und suchte sich Handlanger, um den Shaolin zu jagen.

King Crab greift den Mönch mit einer Armee von Söldnern an und scheitert. Wie alle Angreifer immer an diesem Super-Kung-Fu-Mönch scheitern.
Denn der Shaolin ist ein Meister des Zen und der Körperbeherrschung und jeder Menge tödlicher Tricks.

Jedes Heft der Serie schwelgt darin, Massaker abzubilden. Ich weiß, schon wieder ein Gewaltcomic! Ich habe einen Regalmeter davon.
Aber SHAOLIN COWBOY ist wie andere Ausprägungen des Genres nicht ernst zu nehmen, weil Darrow es einfach auf die Spitze treibt.

Im Getümmel dutzender Angreifer spritzt das Blut, es fliegen Körperteile – und das seitenlang in stummer Slow Motion, als wolle der Comic dem verwandten Medium Film mal zeigen, wer hier die krassere Show liefert!

Dieses Tableau zeigt den bereits begonnenen Kampf. Erstes Opfer war ein Redneck mit Knarre, der auf den Shaolin anlegte. Mit einem hohen Tritt zum Hals hatte der Mönch demselben eine Halswirbelscheibe aus dem Leib getreten.

Das zeige ich jetzt nicht, aber welch skurrile Idee! Daraufhin war die Schießerei losgegangen.

Sex, Religion, Waffen, Fast Food

Und es ist wirklich nicht ernst zu nehmen. Haben Sie bemerkt, dass im Scan mit dem fliegenden Auto (weiter oben) ein Papageien-Pärchen fröhlich zwitschernd auf der Stromleitung sitzt? Aha.

So was macht Darrow andauernd im Bildhintergrund. Seine Stadtlandschaften sind dekoriert mit Hunderten von Werbetafeln und Graffitis, die einen Kommentar auf das zeitgenössische Amerika abgeben.

Trumps „MAGA“-Slogan taucht überall auf, manchmal auch sein Konterfei. Waffenwerbung der NRA ist allgegenwärtig, oft in Kombination mit halbnackten Frauen. Faschistische Symbole wie das Hakenkreuz sind beliebte Tattoos und Wandschmierereien.
Jesus macht Werbung für Drogen und Feuerwaffen.

Der Kapitalismus ist verkommen zu einem marktschreierischen Instrument der niedersten Instinkte und Triebe. Die Ansprach der Konsumenten richtet sich an deren Konsumgier, Hunger und Fremdenfeindlichkeit.

So mutiert bei Darrow die Fastfood-Kette KFC (Kentucky Fried Chicken) zu „KKKFC“, die Ku-Klux-Klan-Variante, wo der joviale Colonel Sanders einen Seitenscheitel und Oberlippenbärtchen trägt.

Wer läuft denn da durchs Bild?

Eigenartig ist, dass nirgendwo People of Color auftauchen. Wir haben es mit rein weißem Personal zu tun. Keine Ahnung, ob Darrow solche Figuren nicht zeichnen mag oder sich bei seinem Perfektionismus nicht traut (es ist nicht leicht, klischeefreie nichtweiße Charaktere zu entwerfen).

Vielleicht will er solche nicht abschlachten (denn darauf läuft es ja meistens hinaus). Vielleicht will er auch sagen: Mein Shaolinmönch ist eine Person of Color und deswegen wird sie immer angegriffen. Auch eine Lesart.

Vielleicht möchte er ganz weg von solchen Überlegungen und einfach nur seinen fiesen Spaß haben. Der im Band „Shemp Buffet“ darauf hinausläuft, dass unser Protagonist es mit einer ganzen Armee von Zombies aufnimmt!

Zum Glück hat er einen Kampfstab dabei, an dessen beiden Enden sich hochtourig laufende Kettensägen befinden.

Achten Sie bitte (oben links neben der Sound-Leiste) auf die Tankfüllanzeige der Kettensägen! Wenn die alle geht und sich ganz nach unten senkt, muss unser Shaolin mit den Fäusten weiterkämpfen.

Das tut er auch, nach gezählten 46 Seiten, auf denen die Sägen sägen müssen!
(Es ist so lachhaft, dass ich beim Zählen grinsen musste.)

Sie verstehen, warum mein Großhirn sagt: „Du brauchst diesen Comic nicht“, doch dann schaltet sich mein Juxzentrum im Kleinhirn ein und blättert Scheine auf die Theke.

Wo kriegt man schließlich solche Szenen zu sehen?

Schweine nicht im Weltall, sondern auf den Straßen der US-amerikanischen Provinz (und schauen Sie im zweiten Panel auf das Hausdach rechts: der Trump-Shop mit dem Pussy-Grabbing-Witz)!

Die 22 Hefte des Shaolin

Die Veröffentlichung und Abfolge der Serie ist nicht leicht durchschaubar. Recherchiert ergibt sich mir folgendes Bild (in Klammern Datum der Albumveröffentlichung):

„Start Trek“ (2014), „Shemp Buffet“ (2015), „Who’ll Stop the Reign“ (2017) und „Cruel to be Kin“ (2023).

Auf Deutsch gab es 2016 einen Band bei Crosscult („Shemp Buffet“) wie auch aktuell Darrows Kollaborationen mit Frank Miller (s. Link).

SHAOLIN COWBOY funktioniert aber über weite Strecken ohne Worte bzw. müssen Sie die banalen Blaseninhalte nicht verstehen. Meint: Auch goutierbar in den englischsprachigen Ausgaben.
Obacht: Hier gibt es Soft- und Hardcoverausgaben (letztere zeichnen sich durch die blauen Buchrücken aus).

Obwohl schon einiger Sprachwitz am Start ist, wenn man Beleidigungen witzig findet. Auch das gehört zum Konzept von SHAOLIN COWBOY: Die Angreifer belegen den fremdländischen Mönch mit allen nur erdenklichen Schmähungen, die sich mit dem asiatischen Raum assoziieren lassen.

„Kung Fool“, „Monkee Bastard“, „Dim Son“, „Wok Jockey“, „Rice Cracker“, „Pork Chopped Suey“, „Samurai Jackoff“, „Chan Man“, „Yangtze Doodle“, „Fool Manchu“ und ganz generell „Foreigner Trash“.

Der Mönch im Nahkampf gegen einen Raum voller rassistischer Hinterwäldler.

Sie sehen, dieser Comic hat keine Handlung, aber eine Haltung. Mach kaputt, was dich kaputt macht. Ob man damit durchs Leben kommt, sei dahingestellt.

Zum Schluss verneigen wir uns alle vor Geoff Darrow und dem Motto seines Shaolin: „Buddha be praised!“
Was echte Zen-Mönche zu all dem sagen würden, wissen wir nicht.

Zu Ihrer Erleuchtung blättere ich schnell in die Werke hinein, um Ihnen einen Eindruck vom Atemraub (Substantiv zu atemberaubend) zu vermitteln: