CANARY – gute Miene zur bösen Mine

Das ist ein solider Horrorwestern, nichts mehr und nichts weniger. Ich mag ihn.

1891 geschehen in Utah und den benachbarten Bundesstaaten rätselhafte Morde ohne ersichtliches Motiv. Marshal Holt kommt, um zu ermitteln. Der Gesetzesmann ist ein harter Knochen, der über Leichen geht und bereits in Groschenromanen verewigt wurde.

Holt wird schnell von seiner traumatischen Vergangenheit eingeholt, als er feststellt, dass die jüngsten Verbrechen in Zusammenhang stehen mit der neun Jahre alten Jagd nach dem irren Serienmörder Hyrum Tell.

Holt stellt Tell in einem See, der ein schreckliches Geheimnis birgt.
Tells Andeutungen und Drohungen werden neun Jahre später Wirklichkeit.

Die Spuren der Morde führen ihn ins Städtchen Canary, wo Holt von Bürgermeister Gemmer und seinem Assistenten Heirs begrüßt wird. Die sind von seiner Ankunft nicht begeistert, da sie befürchten, dass der schießwütige Marshal für Ärger sorgen wird.

Nach Canary beordert hat ihn allerdings Mabel Warren, Tochter des verstorbenen Bergwerkbesitzers Chester Warren, der Canary gegründet, aber auch beherrscht und ausgebeutet hat. Warren selbst kam vor Jahren samt einiger Arbeiter beim Einsturz der Kupfermine ums Leben.

Motor der Handlung ist jedoch der Geologe Edison Edwards, der eine ziemlich spinnerte Theorie zu den Morden hat: Von Canary aus und der Gegend, wo Tell sein Unwesen trieb, führen unterirdische Wasseradern womöglich verseuchtes Wasser an die Tatorte.

Seine Untersuchungen ergeben, dass die Mine viel tiefer ist, als sie sein dürfte, um Kupfer zu schürfen. Der Fels besteht darüber hinaus aus unbekannten Gesteinsformationen!

Das ist natürlich alles arg konstruiert, wie CANARY überhaupt aus Versatzstücken montiert ist.
Holt lässt mich an Clint Eastwoods Figur in „Erbarmungslos“ denken, auch ein wenig an den „Saint of Killers“ in PREACHER, der Horror in der Mine sogar an einen „Kinderfilm“ wie „Ghostbusters Legacy“.
Hinzu gesellen sich der kluge Sidekick (Edwards), der windige Bürgermeister (Gemmer) und die furchtlose Frau, die „ihren Mann steht“ (Mabel Warren).

Der Comic erzählt zwischendurch in Rückblenden, was mit seiner Familie geschah und wie Holt zum zynischen Marshal wurde.

Dessen Schießkünste sind bald gefragt, denn aus der Mine kehrt plötzlich ein vermisster Arbeiter zurück und unser Ermittlungsteam entdeckt Warrens geheime Zeremonienkammer, in der sich einst auch Serienmörder Tell aufgehalten hat.

Im Berg beginnt es zu brodeln, als unsere Hauptfiguren die Untiefen der Mine erkunden und sich dort mit unnatürlichen Phänomenen konfrontiert sehen.

Das actionbetonte Finale werde ich nicht verraten, auch wenn es niemanden überraschen dürfte. CANARY folgt den Konventionen des Genres und macht den Sack zu, der zuvor aufgemacht wurde.

Als überflüssiges Element empfinde ich den Auftritt des indianischen Stammes der Paiute mit ihrem Anführer Wovoka. Gute, tapfere und leidgeprüfte Menschen, die schon immer wussten, dass das Böse im Berg lauert und die deshalb die Mine sprengen wollen.

Ich sage „leidgeprüft“, weil Wovoka in einem kurzen Dialog mit Miss Warren von den „Indianerschulen“ berichten darf, in denen seinerzeit indigene Kinder umerzogen wurden.

Gehört hier nicht hin. So schmuggelt man zwar Unrechtsaufarbeitung in einen Horrorwestern, doch dafür wünsche ich mir eine eigene Graphic Novel.

(Tatsächlich ist die Geschichte der USA ein einziges Trauerspiel an Landraub und Vertreibung: Die Menschen, die schon da waren, wurden über Jahrzehnte hinweg immer weiter nach Norden und Westen gedrängt, bis sie nur noch in den ihnen zugewiesenen Reservaten Zuflucht finden konnten.
Das aber ist so deprimierend, dass eine eigene Graphic Novel vielleicht zu trist geraten würde. Hmmm.)

Ein un-amerikanischer Western

CANARY hat für mich einen italienischen Look.
Das Artwork von Dan Panosian hat diesen struppigen, tuschelastigen Strich der italienischen Schule (wie im ewigen Western TEX vorgeführt). Seine Gesichter rufen in mir Erinnerungen an den Stil Ferdinando Tacconis wach.

Und drittens hat sein Marshal Holt mitunter Züge des Italowestern-Stars Franco Nero.

Zudem arbeitet Panosian mit extravaganten Hintergründen, so zum Beispiel monochrom gefärbten Himmeln in unpassendem Gelb, Rot oder Gold!
Diese weisen oft noch getupfte Farbspritzer auf oder grobe Pinselschwünge – als hätten Maler die Wand nicht sauber hinbekommen.
Speziell, soll wahrscheinlich die übernatürliche Anmutung  betonen. 

So etwas bekommt man sonst nicht im US-Comic zu sehen.

Auf der folgenden, gelbstichigen Seite wird der Geologe Edison Edwards eingeführt. Panosians prinzipiell großflächige Panels spielen auch kreativ mit der Kamera: Der Übersichts-Totalen folgt ein subjektiver Blick von Edwards auf den Marshal von hinten, dann erleben wir einen radikalen Gegenschnitt aus Holts Blickwinkel, der uns die neue Figur präsentiert.

Autor ist nämlich der Amerikaner Scott Snyder, der sich mit der Serie AMERICAN VAMPIRE einen Namen machte, viel für BATMAN geschrieben hat und seitdem Spaß an eigenen Stoffen wie UNDISCOVERED COUNTRY, NIGHT OF THE GHOUL, WYTCHES oder NOCTERRA hat.  

Snyder ist ein Veteran, der auch in CANARY die Spannung gut aufbaut und im Fortgang kontinuierlich steigert. Was zu Beginn noch seltsamer Zufall sein kann, ist gegen Ende garantiert purer Horror aus dem Jenseits von Raum und Zeit!
Nice.

Verlagslink und Leseprobe HIER bei Splitter einsehbar.

Und ich zwitschere Ihnen noch als CANARY-Vögelchen was beim Blättern durch die Seiten: