Dieser Comic macht im Ausland gerade Furore, denn er kombiniert knuddelige Tierchen mit einer Serienmördergeschichte!
Klingt erst mal bescheuert, aber wenn Sie Revue passieren lassen, was im Funny-Animal-Genre schon bedient wurde, ist es eigentlich nur zu erwarten, dass sich ein solches Werk an die Neunte Kunst heranschleicht.
Es lag auf der Straße wie die Mordopfer, die ich Ihnen gleich vorstelle.
(Denken wir nur an den Noir-Krimi mit dem schwarzen Kater BLACKSAD oder die Hardboiled-Parodie INSPEKTOR CANARDO – ich habe im Abspann meiner Besprechung zu MAUSART ein wenig über Tierfiguren in realistischen Settings geredet.)
„Dexter“, die niedliche Variante
Das ist die Kurzformel, auf die man BENEATH THE TREES WHERE NOBODY SEES bringen kann.
Hauptfigur ist die Bärin Samantha Strong, die im US-Städtchen Woodbrook einen kleinen Baumarkt leitet. Sie ist Freundin mit allen Bewohnern, darunter dem Ziegenrentner Martin, dem Kioskbesitzer Chip, der alten Mausdame Lola, deren Sohn Nigel und ihrem Angestellten Charlie, einem Maulwurf mit Glasbausteinbrille.

Doch Sam hat ein dunkles Geheimnis. Wie der Forensiker Dexter Morgan hat sie einen unstillbaren Drang, Menschen zu töten, zu zerstückeln und in Farbeimern im Wald zu vergraben.
(Das darf ich verraten, es gehört zur Prämisse des Comics; allerdings werde ich nichts von den weiteren Entwicklungen spoilern.)
Sie geht dieser Leidenschaft jedoch nicht in Woodbrook nach, sondern unternimmt zu diesem Zweck Ausflüge in die Stadt. Dort schnappt sie sich nach purem Zufallsprinzip jemanden, der so unglücklich ist, ihren Weg zu kreuzen.
Exakt wie Dexter betäubt Sam ihre Opfer, verfrachtet sie in den Wald und beginnt ihr grausiges Handwerk, das ihr inneren Frieden verschafft.

Dann kehrt sie von ihren „Besorgungen“ in der Stadt zurück, ist die Hilfsbereitschaft in Person und pflegt abendlich die Freundschaft mit Lola und Nigel – bei einem Glas Rotwein und behaglichem Kaminfeuer.
BENEATH THE TREES WHERE NOBODY SEES steckt voller Kleinstadtklischees und grafischer Marker, die uns sagen: Das ist das Abziehbild einer prädigitalen USA, unser Wohlfühlraum der Nostalgie – auch ein Safe Space, wenn man so will.
Richten wir euch diesen ein, um ihn im Folgenden tüchtig zu zertrümmern.
Es handelt sich natürlich auch um eine Referenz an Paranoia-Filme wie „Blue Velvet“ und TV-Serien wie „Fargo“. Unter der Oberfläche des Normalen lauert das Grauen!

„Home is where the heart stops“
Das ist uns vertraut, darauf lassen wir uns ein, und das alles würde nicht funktionieren, wenn es schlecht gemacht wäre. Autor und Zeichner Patrick Horvath ist jedoch so clever, seine Geschichte cineastisch wie eine Fernsehserie vor uns ablaufen zu lassen.
Die Zwischenüberschrift ist das Motto des Comics und transportiert eine gehörige Portion Ironie. Wir Popkulturnerds betrachten die Story von Beginn an als das, was sie ist: eine Parodie auf den True-Crime-Hype.
Dank der tierischen Figuren, die teilweise auch direkte Vorbilder haben. So baut Horvath eine Miss Piggy ein, die sich schrecklich zickig verhält und sich in dieser Sequenz im Café vordrängelt.

In sechs Episoden entwickelt er eine runde Dramaturgie, die das Geschehen lehrbuchartig inszeniert, steigert und schlüssig zu Ende bringt – inklusive einem allegorischen Kapitel, in welchem Samantha kopflos im Wald herumirrt und dort eine Begegnung mit einem Bären hat, die ihr den Kopf wieder zurechtrückt.
Dieses „Erweckungserlebnis“ ist insofern interessant, als dass zwei Bären aufeinandertreffen: ein echter Bär und ein anthropomorpher Bär.

Das ist auf den ersten Blick widersinnig, doch Horvath benutzt den echten Bären als Chiffre für die Natur (er hat soeben ein Rehkitz gerissen, sein Maul ist blutverschmiert).
Der Menschenbär Samantha blickt der Natur ins Gesicht und sieht sich darin gespiegelt. Sam begreift in diesen Momenten, dass ihre Mordlust Ausdruck der Natur ist, ihrer eigenen sowie der allgemeinen.
Somit holt sie sich eine Rechtfertigung und Bestätigung für ihr Hobby und auch die Kraft und Entschlossenheit, es mit ihrem Gegner aufzunehmen.
Zweierlei Tierdarstellungen aufeinanderprallen zu lassen, ist natürlich verrückt (es kommen weitere echte Tiere vor), muss man jedoch als Parallelführung zu unserer Realität verstehen. Wir besitzen ja auch Haus- und Nutztiere – und sind selber nicht viel mehr als Tiere.
Gut, jetzt interpretiere ich mögliche Absichten des Comics, der uns gemahnen mag, unsere eigene Natur zu reflektieren. Das ist mein üblicher Meta-Fimmel, den Sie getrost außer Acht lassen können.

Es geht tierisch ab
Schon im zweiten Kapitel muss Sam entsetzt feststellen, dass sie Konkurrenz bekommt: Ein weiterer Mörder treibt sein Unwesen – und zwar mitten in Woodbrook!
Das passt Sam nicht in den Kram, denn es geht gegen ihr Credo, was da lautet „Bring nicht die Nachbarn um“.
Das stürzt die Gemeinschaft ins Chaos, das verdirbt die Stimmung, das könnte unangenehme Nachforschungen zur Folge haben.
Genau so kommt es jedoch: Der Mörderkollege legt Spuren, die auf Sam hinweisen!
In Woodbrook verdächtigt jeder jeden – und Sam droht, die Nerven zu verlieren.

BENEATH THE TREES WHERE NOBODY SEES ist so verblüffend, weil die Inszenierung eine tolle Fallhöhe bietet: Putzige Tiere begehen Bluttaten in Aquarelloptik.
Das hab ich so noch nicht gesehen. Eventuell ein gutes Double Feature mit Skottie Youngs Splattermärchen I HATE FAIRYLAND.
Horvath setzt die Serie übrigens momentan fort: Unter dem Titel „Rite of Spring“ erscheinen weitere Hefte um Samantha Strong und ihr mörderisches Treiben!
Zum Ausklang linke ich die Webseite bei IDW Publishing, wo es noch heißt, der Comic sei ausverkauft. Ich halte aber schon die Zweitauflage in Händen, aus der ich Ihnen einige Seiten vorblättere.