STANDSTILL: Anhalten, bitte!

In diesem Comic wird die Zeit manipuliert, allerdings wird nicht in ihr gereist!
STANDSTILL präsentiert eine Art Smartwatch, mit der man die Zeit anhalten kann.
Die Zeit steht also still und der Mensch mit dem Gerät bewegt sich durch eine „eingefrorene“ Welt.

Sie können sich das so ähnlich vorstellen, wie es im Kinofilm „The Flash“ dargestellt wurde: Flash kann sich so schnell bewegen, dass die Welt um ihn herum fast komplett „herunterbremst“. In dieser Chronosphäre kann Flash elf Babys nacheinander auffangen, die aus dem Fenster einer Entbindungsstation fallen.

So funktioniert das auch hier: Ryker, Träger der Superuhr, sitzt in einem Diner, plaudert mit der Kellnerin, hält dann die Zeit an, steckt der Frau ein enormes Trinkgeld zu, verlässt den Laden – und startet die Zeit wieder.

Jetzt ist er natürlich weg und die Kellnerin wundert sich, was geschehen ist.

© für alle Abbildungen: Loughridge, Robinson, Riegel / Splitter-Verlag

Dieses Zeitstoppen finde ich als Prämisse spannend, denn man kann damit eine Menge anstellen.
STANDSTILL ist allerdings keine Comedy, sondern bietet anfangs beinharte Action, serviert mit kessen Dialogen.

Ryker nämlich ist auf einem Rachefeldzug: Seine Frau ist an einer Überdosis Drogen gestorben und nun bringt Ryker alle um, die er damit in Verbindung bringen kann – die Produzenten, die Dealer, sonstige Hintermänner und Financiers.

Ein bisschen extrem und ein bisschen sadistisch geht Ryker dabei vor, er hat sichtlich Spaß daran, Leute zu quälen und teilweise regelrecht hinzumetzeln.

Der Auftakt schildert ein Wortgefecht in einer Rockerkneipe. Ryker beleidigt die Männer, die er als Dealer im Verdacht hat, dann hält er die Zeit an und im nächsten Bild liegen zehn ausgeweidete Biker am Boden.

Dasselbe Muster wendet er bei einer Reise nach Pakistan mit lokalen Warlords und Terroristen an, die er im „Zeitloch“ das Feuer aufeinander eröffnen lässt.

Rykers nächste Opfer sind eine arrogante Influencerin (die er jedoch nur ausraubt) sowie ein Manager, den er langsam vergiftet.

Ich vermute, STANDSTILL will hiermit auf die so genannte „Opiat-Krise“ in den USA anspielen, obwohl es nie ausgesprochen wird.
Hier ist der Comic schwammig und möchte offenbar satirische Sozialkritik transportieren.

(An dieser Stelle möchte ich frech einwerfen, dass Autor Lee Loughridge bislang nur als Kolorist im Geschäft tätig war.)

Übrigens erfahren wir zwischendrin (aus Regierungskreisen, hehe), dass die fabelhafte Zeituhr aus einem Geheimlabor entwendet wurde. Der verantwortliche Militärchef ist davon nicht begeistert.

Der erwähnte Wissenschaftler Colin Shaw hat mit seiner Kollegin Kate den Zeitstopper gebaut, aber nie getestet. Dass sein Studienfreund Ryker diesen dann im passenden Moment stehlen konnte … nennt man wohl Timing.

STANDSTILL ist dramaturgisch sauber konstruiert, aber man bemerkt die Schnittstellen der eingefügten Versatzstücke. Da kommt viel von der Stange, beispielsweise ein Aufräumer der Regierung, der Ryker unschädlich machen soll.

Auch die weitere Hauptfigur (Colin) stammt aus dem Bastelbuch der Popkultur: Der liebenswerte Nerd schafft es, in seiner Garage eine zweite Stoppuhr zu bauen!

Dazu muss Kollegin Kate aber noch mal zurück ins Labor und dort Chemikalien stehlen. Diese überflüssige Sequenz dient allein dazu, der weiblichen Figur etwas Handlung zuzuschanzen.

Schön, dass eine Frau mitspielen darf, aber im Anschluss verlässt sie die Geschichte, damit sich der Showdown zwischen Kerlen abspielen kann!
Denn Colin will Ryker zur Rede stellen und von seinen Taten abhalten.

„Was würden Sie nicht tun?“

Wenn Sie im Besitz der Zeitstoppuhr wären. So lautet die Frage, die der Comic uns zweimal stellt. Und ich sag spontan: Menschen umbringen?

STANDSTILL will mit solch rhetorischen Schlenkern eine Gewichtigkeit vortäuschen, die der Stoff jedoch nicht einlöst.

Er pendelt zwischen Rykers Gewaltorgien, der Bastelstunde mit Colin, einer Aussprache zwischen den beiden bis hin zu mätzchenhaften Gags. So viel Zeit muss sein, zwinker.
Hier maßregelt Ryker einen Stewardessen-Grabscher im Flugzeug:

In der Mitte des Bandes geschehen drei markante Umbrüche:
Erstens steuert die Handlung weg von der Rachegeschichte.

Als Ryker seine Todesliste abgearbeitet hat, zieht er sich in ein Ferienparadies am Comer See zurück und versinkt in Selbstmitleid und Lebensüberdruss.

Das wird groß ausgestellt (insgesamt 14 Seiten generische Motive zum Themenbereich Partys, Frauen, Drogen, Selbsthass, Elend) und ich frage mich, ob das unser Interesse an der Figur wecken soll.
Tut es nicht, denn Ryker bleibt mir unsympathisch.
Dann rückt Colin an, ist sein bester Kumpel und bringt Ryker wieder in die Spur (dazu klischeegeladene Bilder von Entzug, Fitnesstraining und selbst Yoga unter freiem Himmel).

Zweitens ändert sich die Spielwiese: Colin kann mit seinem Gerät zwar nicht die Zeit anhalten, aber sich in der angehaltenen Zeit bewegen.
Ursprünglich wollte er auf diese Weise Ryker Einhalt gebieten, doch es kommt anders.

In Parallelmontagen macht sich Regierungskiller Jack auf den Weg, spürt die beiden in Como auf und bereitet sich auf die Konfrontation vor.

Jack verfügt über eine dritte Stoppuhr, die ebenfalls von Colin konstruiert wurde. Wie das so flott gegangen ist, bleibt ein Rätsel (vor allem, nachdem er so Probleme hatte, die zweite zu bauen).

Natürlich brauchen wir die dritte Uhr, damit Jack sich mit Ryker duellieren kann! Und wir brauchen eine Szene, in der Jack dieses Gerät bei Colin abholen geht, was auf einer fünfseitigen (und blutigen) Kampfsequenz geschildert wird:

Drittens wechselt das Artwork von Andrew Robinson zu Alex Riegel – und das ist ein Jammer. Denn Riegel kann mit Robinson nicht mithalten und die übergroß konzipierten Panels im Querformat nicht adäquat füllen.

Sie sahen ihn bereits in den letzten Bildbeispielen. Für sich allein genommen ist Riegel ja okay, aber der Kontrast zu Robinson tut weh (mir zumindest).

Stillgestanden zum Fazit

Kann ich kurz machen: Die erste Hälfte ist ein unterhaltsamer und schicker Comic, die zweite Hälfte bietet grafisch wie inhaltlich nur noch Mittelmaß.

Immerhin ist STANDSTILL ein prächtiger Hardcoverband in originellem Querformat und bietet noch einen 40-seitigen Bonusteil mit Einzelcovern, Charakterskizzen, Storyboard, Skriptauszügen und Entwicklung des Werks.

Ich darf zum Schluss noch die betreffende Seite beim Splitter-Verlag verlinken und blättere auf Instagram in den Band hinein.

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