Tillmann liest: L’ETAT MORBIDE

Der prominenteste französische Horrorcomic. Was so schon nicht stimmt, denn a) ist das Werk mehr Phantastik und b) ist es belgisch (spielt in Brüssel, Autor und Zeichner Daniel Hulet ist Belgier)!

Ernstlich: Es gibt keinen frankophonen Horror. Da wäre noch das Werk von Philippe Foerster (kafkaeske Kurzcomics), aber auch der ist Belgier. Letzte Kandidaten sind noch Joann Sfars PROFESSOR BELL und ALS DIE ZOMBIES DIE WELT AUFFRASSEN von Guy Davis und Jerry Frissen (beide Serien sind Semi-Funnies und Frissen auch wieder Belgier).

Die Franzosen haben andere Dinge im Kopf, wie wir wissen. Die Franzosen können Funnies, Abenteuer, Detektivgeschichten, Erotik und ganz groß: Western! Aber nix mit Horror. Ich frage mich, was das über eine Nation aussagt. Die Amerikaner kennen ja fast nur Horror und Superhelden, die Engländer sind stark in Science Fiction. Deutschland hat seit Jahrzehnten eine fortlaufende Horrorproduktion, ansonsten jede Menge Cartoon und Funnystrips und dann doch gerne ernsteren Graphic-Novel-Kram (mal aus der Hüfte gemutmaßt).

Aber ich wollte über L’ETAT MORBIDE reden, auf Deutsch in drei Einzelalben erschienen (1992/93 bei Feest, kurz zuvor schon bei Ehapa, wenn ich das recht verstehe). Die heißen „Der Turm“, „Der verschlingende Zugang“ und „Waterloo Exit“. Hulet hat lange sechs Jahre dran gesessen: Die Serie erschien in Frankreich von 1987 bis 1992.

Stilistisch ist Hulet superschick, ich würde es einen Mix aus Bilal und Manara nennen. Angeblich hat man ihn den „belgischen Bilal“ genannt, wie ich eben sehe. Hulet verstarb 2011 im Alter von 66 Jahren und kreierte ansonsten noch PHARAON und WEGE ZUM RUHM.

Sein L’ETAT MORBIDE ist eindringlich, aber letztlich nicht verstehbar. Was geht ab?

(Im Folgenden wird die Handlung von vorn bis hinten gespoilert, ich verrate komplett alles, sonst kann ich nicht drüber reden …)

 

Der Auftakt von L’ETAT MORBIDE: Charles bemerkt das seltsame Haus vis-a-vis der Kathedrale.

Der junge Comiczeichner Charles mietet sich in einem gruseligen Haus in Brüssel ein. Er ist fasziniert vom morbiden Charme und erhofft sich Inspiration für seine Arbeit. Sein Vorgänger hat sich im Wohnzimmer erhängt, aus der Wand im Schlafzimmer krabbeln ab und zu kleine Käfer, nur die Hausmeisterin Madame Spiegel begegnet ihm im verfallenen Gebäude.

 

Concierge Madame Spiegel zeigt Charles die freistehende Wohnung.

 

Seine Liebschaft Alba sowie die punkigen Freunde Richard und Kleenex raten ihm, rasch wieder auszuziehen.

Das Verhältnis zu Alba ist nicht von Harmonie geprägt …

Der neugierige Charles stellt historische Nachforschungen an und entdeckt, dass das Haus auf den Ruinen eines Turmes mittelalterlicher Teufelsanbeter erbaut ist. Er und die Freunde durchsuchen die Wohnung über ihnen und finden die verwesten Leichen des alten Schauspieler-Paares, die dort als Messies verreckt sind.

Richard und Kleenex begleiten Charles in die Messie-Wohnung obendrüber.

Tage später geht allen Mietern eine geheimnisvolle Tarot-Karte zu (Le Maison Dieu, der Turm), die Charles als Vorankündigung eines Opfer-Rituals deutet. Er besucht die Nachbarn, um sie zu warnen – und findet sie alle enthauptet vor. Charles stürzt die Treppe hinab und wird im blutbesudelten Flur bewusstlos. Ende Band 1!

Dramatisches Finale des ersten Albums: Alle Mitbewohner auf einen Schlag ausgemerzt.

In Band 2 erwacht Charles in einem Kellerverlies, wo ihn Madame Spiegel gefangen hält. Bald merkt er, dass die Ermordeten nur Puppen waren – und dass sie zuvor alle von einer maskierten Madame Spiegel gespielt wurden. Auch die Spiegel ist nur eine Figur, denn einzig die mysteriöse Hausbesitzerin, Frau Zimmermann, lebt mit Charles im Haus.
Die schlüpft in Rollen und arbeitet ein Trauma aus der faschistischen Besetzung Brüssels auf: Ihr Sohn Simon wurde zum strammen Nazi und in einem Familienstreit vom Vater erstochen (erzählt in Flashbacks).

Charles entdeckt die makabren Requisiten sowie eine Replik des toten Simon.

 

Frau Zimmermann sieht in Charles wohl einen Ersatzsohn und unterzieht ihm im Keller einer Prüfung: Er muss sich durch unterirdische, labyrinthische, enge und gruselige Gänge in die Krypta der benachbarten Kirche retten.

Charles irrt zwischen Haus und Kirche durch alptraumartige Gänge.

Diese Suche durchs Labyrinth ist stimmungsvoll unheimlich und wird überirdisch durch eine Aktion der Freunde konterkariert: Alba, Richard und Kleenex versuchen ins Haus einzudringen, um Charles zu holen, werden jedoch durch albtraumartige Halluzinationen daran gehindert. Frau Zimmermann verfügt über psychische Bannkräfte und kann die Gruppe vertreiben.

Die Halluzinationen beginnen: Kleenex glaubt, plötzlich kopflos zu sein.

Charles hat inzwischen seinen Weg gefunden, verlässt den Keller und kehrt ans Zeichenbrett zurück. Höchst kryptisches und hastiges Ende, hier sind Hulet die Seiten ausgegangen, schätze ich mal.

„Sudden Death“ des zweiten Bandes. Was geht ab? Keine Ahnung, Band 3 lesen!

Dieser Band 2 ist komplett gaga und lebt allein von der Grafik. Die aber ist wahrlich fantastisch. Ein Drittel dieses Albums sind wüsteste, psychedelische Visionen – gehalten in Rose, Braun und knochenfarbigen Tönen! Sämtliche anderen Panels schimmern in Moosgrün, Beige und Schwarz. Der Kontrast ist atemberaubend. Selten war ein Comic derart bildgewaltig. Hätte ich das als Jugendlicher schon zu Gesicht bekommen, es wäre mir prägend in Erinnerung geblieben …

Die Freunde von Charles durchleben grausige Visionen.

Das Einzige, was wir verstehen, ist: Frau Zimmermann ist eine Hexe, und der neugierige Charles ist weiter Wachs in ihren Händen.

Band 3 verwirrt uns weiter mit einem Auftakt am Mahnmal von Waterloo (und schwarz-weißen Szenen der historischen Schlacht, die aber auch eine Filmvorführung sein könnten). Denn Charles trifft vor dem dortigen Kino auf Alba und die Freunde. Er erscheint im Anzug und mit gegeltem Haar und erzählt, was los war. Frau Zimmermann hat ihm erklärt, sie hätte die Maskerade nur aus Einsamkeit gespielt und Charles gebeten, zu bleiben, da sie ihn an seinen Sohn Simon erinnere. Er könne weiter Comics zeichnen und nebenher noch bei einem Experiment helfen, das sie seit Jahren vorbereite.

Weshalb Charles so lammfromm alles mitmacht, ist nicht nur den Freunden ein Rätsel. Zumal es bei dem Experiment darum geht, Charles seine Seele aus dem Körper zu ziehen. Während einer Party in Charles‘ Wohnung kommt es zum Showdown: Frau Zimmermann bittet Charles ins Labor und transferiert seine Seele in eine Stubenfliege!

Unsere Teufelsanbeter am Ziel: Frau Zimmermann hat Charles‘ Seele in eine Fliege transferiert.

Die Zimmermann schlüpft (wieder jung geworden) in dessen Leib und droht Alba an, sie jetzt mal ordentlich flachlegen zu wollen. Die merkt, was los ist und flieht nackt aus dem Fenster.
Charles‘ Seele treibt indes durchs Haus, kann aber nicht eingreifen. Sein Astralleib rast nach Waterloo, erweckt dort die Geister der toten Soldaten und greift mit seiner Armee Brüssel an. Die macht Frau Zimmermann unschädlich, und Charles‘ Astralleib rettet Alba (oder zumindest deren Astralleib).

Frau Zimmermann als Charles stellt Alba nach, der echte Charles saust als roter Komet über Brüssel dahin.

Das Haus löst sich auf und – Achtung, jetzt kommt noch der Clou: Das war nur ein Comic, den Alba zuschlägt!

Selbstkritik am unteren Rand: „Total bescheuerter Comic!“

Und noch ein Twist: Alba streift auf der Suche nach Charles durch Brüssel, sieht eine Wohnungsannonce im uns bekannten Spukhaus und wird nichts Böses ahnend vorstellig bei Madame Spiegel, um sich im Haus einzumieten. Die Szenerie ist gestaltet wie eine Theaterbühne, was aber nur wir Comicleser wahrnehmen. Die wir die ganzen Bände hindurch ja ein Theater auf Papier verfolgt haben!
Ahhhh, so! Nette, aber irre Idee, die sich logisch niemals erschließen kann.

Schon das irre Bild an der Wand deutet an, wie verschlungen, meta und abstrus dieses Werk ist.

 

Hier ist die Liste offener Fragen, auf die wir wohl nie eine Antwort bekommen:

Was ist mit dem apokalyptischen Comic, den Charles in Band 1 zu zeichnen beginnt?
Wieso die Story mit dem faschistischen Sohn Simon, wenn der gar nicht wiederbelebt werden soll?
Weshalb irrt Charles 8 Seiten lang durch dieses Labyrinth, wenn das keinen konkreten Zweck hat und er wieder am Ausgangspunkt landet?
Warum der Seelentransfer in die Stubenfliege, die augenblicklich entfleucht, dann erschlagen wird, sodass Charles‘ Seele frei herumschwebt?
Warum überhaupt der ganze elaborierte Overkill an Inszenierung (die Puppen, die Karten, die Maskerade, das falsche Tagebuch), wenn doch die alte Zimmermann das auch alleine mit ihrer Psychopower bewerkstelligen kann?

Vieles scheint hier aus reinem Effekt und absurdem Schauwert zu passieren. Das ist dramaturgisch nicht sauber und hätte das Werk sowieso nicht nötig. Hulet hat sich schlicht gehen lassen. Damit müssen wir leben, auch wenn es uns ein riesenhaftes „Häh?!“ ins Gesicht zaubert.

Schon auf dem Frontispiz des ersten Bandes stellt Hulet klar, dass er Comic als Theater auf Papier versteht.

 

Trotzdem gefällt mir L’ETAT MORBIDE. Eine solche Ballung an Wahnsinn hat man selten gesehen (erinnere mich gerade an THE FILTH von Grant Morrison, kürzlich konsumiert, das ist noch bekloppter, und aktuell sind die PAPER GIRLS auch so‘n völlig kryptischer Comic). Denn den ungelösten Sachverhalten stehen viele tolle Ideen gegenüber: Charles hantiert im ersten Band selber mit Masken und entwirft eine wirres Comicfragment, das vom Haus beeinflusst ist. Die überall auftauchenden Karten im ersten Teil und der vermeintliche Unglücks-Countdown bauen Spannung auf (auch wenn diese Elemente anschließend nicht weiter verfolgt werden und verpuffen).

Auf stilistischer Ebene  besticht Hulets Opus Magnum auch durch ein radikal unkonventionelles Layout. Dazu erleben wir immer wieder „Bildsprünge“ aus der Szene hinaus, die uns an einen anderen Ort bzw. in andere Zeit führen (das dient der surrealen Atmospähre von L’ETAT MORBIDE). Wir haben es mit einem allumfassenden, nicht abschüttelbaren, rätselhaften „Morbid-Zustand“ zu tun. Der Gestaltungswille des Künstlers schlägt uns einfach in seinen Bann. Das ist ja auch eine Form von Magie …

Zudem ist der Comic an reale Orte in Brüssel und Belgien angebunden, das verschafft ihm eine Gänsehaut verursachende Authentizität.

Beispiel für die wilden Huletschen „Bildsprünge“: Die Anfahrt auf Waterloo wird gegengeschnitten mit Impressionen der historischen Schlacht.

 

Bleibt der unfaire Trick mit dem Meta-Comic. Am Schluss von Band 2 nimmt Charles die Arbeit an dieser Dystopie aus Band 1 wieder auf. Das ist aber mit Sicherheit eine andere Geschichte als die, in der wir uns befinden. Wie kann dann am Ende von Band 3 unsere Geschichte (L’ETAT MORBIDE) der Comic gewesen sein, den Charles gezeichnet hat?
(Einzige Erklärung: Es ist, wie es ist – ein Comic im Comic, den uns Charles noch unterjubelt.)

Zurückblätternd finden wir keinen Anhaltspunkt, WO genau für uns Leser die reale Geschichte in eine Comicfiktion übergeht. Noch konfuser wird es, wenn wir beobachten, dass die Seite 18 des Schlussbandes plötzlich in einem anderen, lockereren Stil gezeichnet ist. Ist das das Signal? Die Geschichte aber läuft darin weiter wie bisher auch. Der Stilbruch ereignet sich nochmals auf Seiten 25 bis 29 und ein letztes Mal auf Seite 48. Das ist die letzte Seite des Comics, den Alba dann in Händen hält (und somit Markierung der fiktionalen Ebene). Innerhalb unserer Comicfiktion sowieso (können Sie eigentlich noch folgen?).

Anyway: L’ETAT MORBIDE ist ein schöner Wurf, eine stimmige Trilogie – und steht übrigens in der Tradition früher Filme von Roman Polanski. Hulet bedient sich tüchtig an dessen Bild- und Handlungsmotiven aus „Ekel“ (1965), „Rosemaries Baby“ (1968) und „Der Mieter“ (1976). Der Grundplot des Comics ist eine Mixtur aus diesen Werken: unheimliche Mietwohnungen, seltsame Nachbarn, Satanisten, Eintauchen in eine Welt des Wahnsinns.

Diese Szene aus „Ekel“ verweist schon mehr als deutlich auf Charles‘ Gang durch das Labyrinth, wo sich ihm ebenfalls Arme entgegen recken.

 

L’ETAT MORBIDE wäre mal ein Fall für eine deutsche Gesamtausgabe (eine französische gibt es längst). Ich musste mir die drei Alben mühsam antiquarisch zusammensuchen …