Rätsel Mensch – Paolo Bacilieris „FUN“

Das ist wild, das ist wirr. Das ist so interessant, dass ich nicht dran vorbei konnte. Schon die Vorankündigung sah verführerisch aus, dann hingen in Erlangen einige berauschende Originale und es war um mich geschehen: kaufen!
Wer auch nur reinblättert in dieses schöne Hardcover-Comicbuch, der bemerkt einen kreativen Clash diverser Layouts, der entdeckt kuriose Arrangements, fühlt sich an Zitate aus der Kunstgeschichte erinnert oder wundert sich ganz plump über farbige Einsprengsel im vorherrschenden Schwarzweiß.

Schauen Sie doch für Ihren Ersteindruck auf einige Seiten aus der vorderen Hälfte von FUN. Leseprobe HIER auf der Webseite des avant-Verlags.

FUN von Paolo Bacilieri ist ein kunstvoller Klotz, bei dessen Kauf ich mich allerdings bang fragte, ob dieses Werk wohl ‚lesbar‘ sei. Es könnte auch grauenvoll sperrig und verkünstelt sein. Gute Nachricht: FUN ist eine erfreulich leichte Lektüre – und gerade das beunruhigt  mich in gewisser Weise.

Doch der Reihe nach, erst ein paar Worte zum Künstler: Der Zeichner, ein Manara-beeinflusster Italiener aus Verona (Jahrgang 1965), ist hierzulande komplett unbekannt. Der avant-Verlag (der gerne in Südeuropa nach Talenten scoutet) spendiert der deutschen Leserschaft ein stabiles Doppelband-Hardcoverbuch:
„FUN“ und „More FUN“.

Comicspaß im Comicspaß: Die mysteriöse Protagonistin Mafalda entdeckt beim Rätselraten ihre Namens-Cousine (deren Bild hinter ihr an der Wand hängt).

 

Den Manara sieht man Bacilieri gottlob nicht an; ersteren nehme ich mir demnächst mal verächtlich zur Brust, letzterer hat einen eigenen Stil entwickelt, der mehr Richtung neue amerikanische Schule tendiert (Daniel Clowes, Chris Ware usw.).
(Kleine, auch nicht vollständige Infos zum Künstler hier bei Lambiek zu finden.)

Und prompt darf ich mich korrigieren, der avant-Verlag belehrt mich, dass sehr wohl schon einige Arbeiten Bacilieris auf Deutsch erschienen sind.
Noch NIE wahrgenommen …

Nun, gut. Jetzt aber FUN. Die Geschichte des Kreuzworträtsels auf 290 Seiten, verwoben mit der Geschichte des Autors der Geschichte des Kreuzworträtsels und dessen aufkeimende Freundschaft mit einem Fan des Autors der Geschichte des Kreuzworträtsels.
(Sie ahnen schon jetzt, dass dieses Buch kein geradliniger Lesespaß ist, sondern eine verschachtelte, meta-reflexive Angelegenheit. )

Dieser Fan heißt Zeno Porno, ist Comiczeichner und –Autor („bei Disney“) und offenbar ein Alter Ego des Künstlers Paolo Bacilieri (und das irritierendste Pseudonym, das je ein Autor wählte, denn Zeno ist weder ein Ladies‘ Man noch hat er mit dem Business des Porno das Geringste zu schaffen).
Zeno ist Rätselfreund und trifft am Kiosk im Mailand (im Herbst 2009) den berühmten Schriftsteller Pippo Quester (ein Professor und meiner Vermutung nach Umberto-Eco-Klon).

Zeno Porno begegnet Pippo Quester und stellt sich vor.

So wie Eco ein Semiotiker, Comicfreund und sich nicht zu schade war, in die Niederungen der Populärkultur hinabzusteigen, verbeißt sich Quester in die historische Aufarbeitung vermeintlich trivialer Kreuzworträtsel.
Der Name Quester könnte ein sprechender sein, ein Mensch mit einer Mission, auf der Suche seines Lebens (vom Englischen „quest“). Die Namen in FUN sind alle recht drollig: Porno hatten wir schon, seine kleine Tochter wird nur Bee gerufen (und sieht im Übrigen seltsam cartoonesk aus), ein kleinwüchsiger Anwalt heißt Patat, die junge Frau heißt Mafalda (so wie die argentinische Stripfigur, auf die auch kurz Bezug genommen wird, s. Abb. oben) und ganz am Rande taucht ein „Mailänder Superheld“ namens „Captain Biscotti“ auf.

Durch FUN hinweg tauchen wenige, aber eigenartige Comicreferenzen auf: Durch Bacilieris Collagen wimmeln klassische US-Comicfiguren, eine Donald-Skizze von Carl Barks wechselt den Besitzer, auf dem Friedhof steht der Grabstein von Guido Crepax.

In der Straßenbahn fantasiert sich Zeno den Marvel-Schurken Hammerhead (von Gerry Conway und John Romita, 1972): Dieser zwingt die Fahrgäste mit vorgehaltener Waffe zum Kreuzworträtsellösen unter Zeitdruck; „Wer’s nicht schafft, „den leg ich um!“
Quester schmunzelt darüber und erinnert Zeno daran, dass Hammerhead ein Aufguss des Dick-Tracy-Gangsters Flattop von 1943 sei.

Eine Comicfigur fährt Straßenbahn: Hammerhead nimmt den Fahrgästen ihre Smartphones ab und schenkt ihnen dafür einen Bleistift.

Meinerseits sei noch klugscheißerisch angemerkt, dass MORE FUN (der zweite Teil von Bacilieris Werk) zugleich der Titel des ersten Comicheftes war, dass ab 1935 originäres Material abdruckte anstatt sich mit dem Nachdruck von Zeitungsstrips zu begnügen.

Versuch  einer Inhaltsbeschreibung:

Der erwähnte Pippo Quester, Schriftsteller und Gelehrter, erzählt uns die Geschichte des Kreuzworträtsels: Von den Anfängen in New York 1913 über den „Cross Word Craze“ des Jahres 1924 und den darauf global erfolgenden Siegeszug anhand der Stationen England, Frankreich, Österreich und Italien. Wir begegnen dabei den historisch belegten Redakteuren und Rätselfüchsen, wie sie sich die Köpfe zerbrechen und diese Kunstform des Worträtsels weiterentwickeln und zur Blüte bringen.

Anekdote aus dem Frankreich des Zweiten Weltkriegs, unten links mit Referenz an einen Film, in dem Kreuzworträtsel auftauchen.

 

Natürlich erzählt uns dies nicht Quester, sondern Bacilieri, der uns Questers Gedanken verbildlicht – wie auch sein Leben. Wir sehen den Professore an seinem Laptop sitzen, Pfeife rauchen, unermüdlich tippen, ausgehen und Besorgungen im  Mailand des Jahres 2009 erledigen. Da eben trifft er auf den Fan und Rätselfreund Zeno Porno, der mit Quester eine Bekanntschaft eingeht und diesen mit Nerd-Wissen füttert.

Quester wird beobachtet und beschattet von einer jungen Frau, Mafalda, die immer wieder im Hintergrund auftaucht und Fotos schießt. Am Ende der ersten Teils baut sie sich vor Quester auf (der mit Zeno unterwegs ist) und schießt ihm eine Kugel in den Leib. Zeno verhindert weitere Schüsse, kann Mafalda überwältigen, die daraufhin in Untersuchungshaft kommt.
Das Attentat, inszeniert im Kreuzworträtsel-Look:

Quester überlebt, Zeno besucht Mafalda in der Haftanstalt, sie schweigt sich zu ihrem Motiv aus. Die Polizei verortet sie als radikale Sympathisantin der „turbo-situationalistischen Bewegung IPERLINEA“. Keine Ahnung, was das sein soll.
Ist „Iperlinea“ eine Anspielung auf eine Meta-Ebene des Zeichnens?

Recherche ergibt, dass es in den 1960er-Jahren sehr wohl eine „Situationistische Internationale“ gab. Die Situationisten operierten an der Schnittstelle von Kunst und Politik, Architektur und Wirklichkeit und setzten sich für die Realisierung der Versprechungen der Kunst im Alltagsleben ein. Sie entwickelten ein Konzept der „theoretischen und praktischen Herstellung von Situationen“, in denen das Leben selbst zum Kunstwerk werden sollte. HIER auf Wikipedia.

Ich gehe da jetzt nicht näher drauf ein, aber lade Sie ein, den Wikipedia-Artikel zumindest querzulesen. Sie entdecken Stichworte, die im Zusammenhang mit FUN durchaus Resonanz erwecken, z.B. „Collage-Technik“, neue Architekturen, die Welt ein Labyrinth, Konzeptkunst, Homo ludens, Psychogeografie, angeblich auch umgetextete Comics.

Der Besuch im Knast, Zeno spricht mit Mafalda, fotografierte Doppelseite. Bacilieri wählt dieses große Layout, um den Graben zwischen den Personen grafisch darzustellen. Man achte auf die Spielecke oben rechts, in der fast nur Rätselspiele zur Verfügung stehen (ein Puzzle-Teppich, Cluedo sowie Teppa, ein italienisches Spiel um Wörter).

 

Weiter in der Handlung!

 

Quester schickt Zeno auf Recherche nach New York, wo Zeno allerdings seine Zeit damit verplempert, an seiner Ex-Freundin Domitilla herumzubaggern. Hat sie Interesse, ihre Liebe wieder aufleben zu lassen? Hat sie nicht.
Zeno kehrt nach Mailand zurück, geht mit seiner Tochter Eis essen und läuft der inzwischen freigelassenen Mafalda über den Weg (Quester hat seltsamerweise keine Anklage erhoben). Sie ergeht sich in Andeutungen über eine inzestuöse Affäre im Hause Quester, was ihre Tat zu motivieren scheint. Ehe Zeno Quester befragen kann, stirbt dieser an einem Herzanfall. Questers Witwe Luisa erzählt Zeno eine andere Version der Vorkommnisse.

Zeno liest auf Geheiß Mafaldas eine Schlüsselstelle aus Questers Roman vor. Ist Mafalda in Wahrheit Questers Tochter?

 

Kurz: Es bleibt alles ein Rätsel. Was treibt uns Menschen an? Weshalb tun wir, was wir tun? Wieso verbringen wir kostbare Zeit mit dem Ausfüllen von Kreuzworträtseln oder der Erschaffung von Kunst und Kultur? Und als Krönung des Ganzen zeichnen wir noch Comics!

Was ist der FUN-Befund?

 

Worte kreuzen sich, Bilder kreuzen sich, Geschichten kreuzen sich.
Bacilieri wirft uns ein Netz aus, mit dem wir in diesem Buch nach Bedeutung fischen können.
Jede Leserin und jeder Leser wird FUN anders wahrnehmen – je nach Interesse, Vorbildung und auch bildungstechnischem Background.

Yes, I am bringing out the big guns now. Ab jetzt heißt es anschnallen, bitte, denn ich krame einige Restkenntnisse aus meinem Germanistik-Studium hervor und behaupte:

Dieser Comic will strukturalistisch gelesen werden!

 

Dazu stellen wir uns mal ganz dumm. Wat is d‘r Strukturalismus? Eine Forschungsmethode der Geisteswissenschaft, insbesondere Linguistik, Literaturwissenschaft, Soziologie, auch Psychologie. Wir schauen nach im Internet, u.a. Wikipedia.

„Der Strukturalismus beruht auf der Grundannahme, dass Phänomene nicht isoliert auftreten, sondern in Verbindung mit anderen Phänomenen stehen. Diese Verbindungen gilt es aufzudecken; genauer gesagt bilden die Phänomene einen strukturierten (strukturierbaren) Zusammenhang. Dabei wird die Struktur jedoch durch den Beobachter in einem Modell konstruiert. Die Struktur existiert also nicht auf der Ebene der Wirklichkeit, sondern nur auf der Ebene des Modells.“

In meinen Worten: Jetzt ist Polen offen und ich als Leser kann mir was zusammenstricken. Wobei ich Bacilieris Szenen auszuwerten und in einen Zusammenhang zu bringen versuche.

Wieder verschränkt sich Architektur mit biografischen Blitzlichtern, Industriegeschichte und Rätseldesign.

 

Auf den ersten 12 Seiten von FUN wird ein Grundmuster klargemacht: Ganzseitige Ansichten von New Yorker Gebäuden gehen über in kleinere Einheiten. Ein hochkant geteiltes Split-Panel zeigt uns zwei Gebäude nebeneinander, eine nächste Seite teilt sich in vier Panels mit Ausschnitten von Gebäuden, dann zeigt uns Bacilieri acht Panels, sechzehn Panels mit Details wie Fenstern, Gesichtern, Figuren – bis diese zu den schwarzweißen Kästchen des Kreuzworträtsels mutieren.
(Wie auf den ersten Seiten der Leseprobe, allerdings gekürzt, zu sehen ist!)

Klare Aussage: Die Welt fließt in das Rätsel ein bzw. das Rätsel repräsentiert die Welt. Der Mensch spielt mit seinem Intellekt, dieser Comic fängt die Rätsellust in rätselhafter grafischer Umsetzung ein.

Variante dieser Fragmentierung bei Questers Schilderung der französischen Historie der Kreuzworträtsel.

 

„Das Verständnis eines Objekts ergibt sich erst durch den Vergleich mit anderen Objekten und durch die Betrachtung seiner Stellung innerhalb deren wechselseitiger Beziehungen. Die strukturalistische Methode begreift ihre Objekte nicht als an sich seiend, sondern als Objekte, die kraft ihrer Einordnung in Strukturen überhaupt erst bestehen.“

FUN wird immer wieder unterbrochen von enigmatischen Mini-Comics, die keinerlei Sinn ergeben!
Zeno und Tochter Bee besuchen eine Kunstausstellung; Zeno fährt zu seinem Onkel aufs Land und hat Unfallängste; Zeno trifft in seiner Heimat einen alten Priester und bekommt einen Papstwitz erzählt; dem Jugendlichen Martino stirbt sein asthmatischer Hund, als er kurz darauf einen Vergnügungspark besucht, kotzt ihm ein Kumpel von Zeno auf der Achterbahn ins Gesicht; eine Frau mit Baby hat einen One-Night-Stand, während das Baby im Nebenzimmer liegt.

Nur ein Beispiel für die eingeschobenen Mini-Comics in FUN: der Papstwitz, mit Lego-artigen Männchen dargestellt.

 

Unklar ist der Autor und Urheber dieser (farbig hervorgehobenen) Comiceinschübe. Meist tritt Zeno in ihnen auf, also könnte man vermuten, es handle sich um autobiografische Spielereien der Comiczeichner-Figur Zeno – allerdings sind diese Geschichten stets signiert mit „Paolo Bac“.

Wieso signiert Zeno Porno mit Paolo Bac(ilieri)? Hier stimmt was nicht! Ich weiß nicht, ob Sie mir folgen können, aber der Autor Bacilieri treibt ein wüstes Spiel mit uns Lesern. Verulkt er uns nur (und erinnert daran, dass Zeno nicht real ist) oder fügt er frech Zeno-Porno-Abenteuer ein, die mit FUN nichts zu tun haben?
(Verwertet er alten Kram im neuen Projekt? Denn die Mini-Comics sind Jahre früher datiert als seine FUN-Seiten!)

Ich habe mir kein abschließendes Urteil bilden können, denn diese 4-bis-8-Seiten-Comics sind völlig zusammenhanglos (weitere Themen sind ein Junge, der aus Schulfrust von daheim ausreißt; eine ältliche Frau, die einen schönen Regenbogen sieht; ein Buchhalter, der nachts schreiend aufwacht, wenn er erfüllten Sex hatte sowie die Darstellung eines zersprengselten Tagesablaufs von Captain Biscotti, Zeno, einer Kunstrestauratorin, ihres Hundes plus der Laterne vor dem Gefängnis, in dem Mafalda einsitzt!).

Fünf Strips untereinander: Mailänder Alltagsnachmittag geht in den Abend über.

 

„Dabei ist unter Umständen eine den Segmenten zugrunde liegende weitere, abstraktere Beschreibungsebene anzusetzen, auf der wieder eine Segmentierung ihrer Einheiten möglich ist. In allen Fällen wird versucht, die analysierten Phänomene mit einer Art „Gitternetz“ zu erfassen, in dem jedes Element durch die Merkmale, Korrelationen und Oppositionen bestimmt ist, die sich aus dem Verhältnis der Elemente untereinander ableiten lassen. Das einzelne Element darf nicht in sich, sondern muss in seiner Funktion in der Gesamtheit des synchronischen Systems verstanden werden. Die Dinge werden also in einem strukturierten und kohärenten System dargestellt.“

Hossa! Ist dieser Comic … ganzheitlich?

Auffällig ist auch, dass die Abfolge der Sprechblasen in FUN alles andere als eindeutig ist. Auf manchen Seiten mäandern die Wortbeiträge nahezu willkürlich über das korrespondierende Panel. Das macht Bacilieri mit voller Absicht und will uns womöglich andeuten, dass selbst chronologisch vonstattengehende Rede in ihrer grafischen Umsetzung in Frage gestellt werden kann.

Wie rätselhaft ist Rede? Ein Italiener entdeckt in der Wiener Straßenbahn eine junge Dame mit dem ihm bis dahin unbekannten Phänomen der Kreuzworträtselzeitschrift.

 

„Es ist eine Grundthese des Strukturalismus, dass Zeichen nicht durch Selbstbezug, sondern über das Geflecht anderer Zeichen Sinn erzeugen. Deshalb ist Sinn nie vollständig präsent, sondern immer aufgeschoben. Zudem sind die Strukturen nicht stabil und geschlossen, sondern veränderlich und offen. Sinn ist letztlich unbestimmt und beweglich. Strukturen werden als verborgene Eigenschaften von Systemen verstanden.“

Tatütata!

Paolo, Paolo, was mache mit mir?

Aufruf: Der kleine Tilli kommt an seinem Schreibtisch nicht so recht mit seinem Rätselcomic voran. Ernstgemeinte Hinweise oder akademischer Rat bitte an info@tillmanncourth.de.

(Dieser hübsche Text ist vom fabelhaften Georg Kreisler – und auch FUN!)