McCAY von Smolderen & Bramanti

Verfluchter Käse!

Gemeint ist nicht diese Graphic Novel über den Zeichner Winsor McCay, sondern das fatale Käsefondue, das dem begabten Illustrator Alpträume beschert und ihn so zum Comiczeichnen bringt.
(Ein Insidergag, denn die Serie vor seinem LITTLE NEMO war DREAM OF THE RAREBIT FIEND, eine Schilderung schrecklicher Träume, hervorgerufen durch übermaßigen Käsegenuss am späten Abend.)

McCay, im grünen Anzug, und ein Kollege fahren schwarz mit dem Zug nach Chicago, um dort ihr Glück zu machen.

 

Höchst spielerisch ist dieses erste Kapitel von McCAY, und spielerisch wird es weitergehen. Wir erleben auf 190 Seiten eine freche wie fantastische Kolportage: Historische Begebenheiten und Persönlichkeiten werden in eine Handlung gepresst, die pure Erfindung ist.

Diese Graphic Novel schildert McCays Anfänge und zeigt ihn auf dem Höhepunkt seines Ruhms 1909. Ein Ruhm, der mit seltsamen Ereignissen aus den Jahren 1889 und 1893 zusammenhängt.

Der Zeichner McCay nämlich begegnet zwei gewaltbereiten Anarchisten, einem Dimensionsforscher, einer flotten Mathematikerin sowie seiner eigenen Comicschöpfung: Little Nemo, dem Knaben aus dem Schlummerland der Träume.
Dann geht es noch ab in die vierte Dimension, Menschen sterben, eine Verschwörung zeichnet sich ab.

McCay trifft den Anarchisten Silas wieder, der bald zu den Waffen greifen und eine prominenten Rolle in des Zeichners Leben spielen wird (natürlich nur in diesem Comic, nicht in echt!)

 

Der Belgier Thierry Smolderen, Autor von McCAY, ist Garant für verzwickte Stoffe. Er schrieb für Alexandre Clerisse DAS IMPERIUM DES ATOMS sowie EIN DIABOLISCHER SOMMER (beide ebenfalls bei Carlsen erschienen) – mit letzerem rang ich an dieser Stelle vor zweieinhalb Jahren.

Jean-Philippe Bramanti gestaltete McCAY als vierteilige Albenreihe (schon vor 15 Jahren erschienen), ehe der Verlag Delcourt vor zwei Jahren dieses Integral herausbrachte. Es ist Bramantis einzige Comicarbeit.
Sein Stil ist in der Tat keiner, den man sich merken könnte oder müsste. Bramanti zeichnet rudimentär und verwaschen, benutzt konventionellstes Layout, aber er transportiert auf hervorragende Weise das Mystery-Feeling dieser leicht unheimlichen Geschichte.
Verdunkelte Theater, nächtliche Zimmer, verregnete Straßen, finstere Häuser, sogar eine Arkham-artige Irrenanstalt – die Atmosphäre stimmt auf den Punkt.

Professor Hinton erinnert McCay an eine Reise in die vierte Dimension, die dieser jedoch verdrängt hat.

 

Legitim? Illegitim? Simsalabim!

 

Natürlich ist es diskutabel, ob es statthaft ist, eine historische Person wie McCay für eine Fantastikfabel zu ‚missbrauchen‘. Man hätte ja ohne Not eine fiktive Figur schaffen können!

Doch Smolderen verquickt seine Spekulationen um die vierte Dimension gekonnt mit dem Zeitkolorit des frühen 20. Jahrhunderts, mit der Kunst der Illustration, der Parallelwelt der Träume und nicht zuletzt einer Hommage an Winsor McCay.

(Außerdem kann ihn der Künstler nicht mehr verklagen; er ist vor bereits 85 Jahren gestorben.)
((Zudem müsste sich McCay hinten anstellen, denn Smolderen packt noch frech den Zauberkünstler Harry Houdini, den Zeitungszar William Randolph Hearst, den Dimensionsforscher Charles Howard Hinton sowie die englische Mathematikerin Alicia Boole in seinen flotten Mix aus Dichtung und Wahrheit.))

Die kluge Alicia weist McCay den Weg zurück in die vierte Dimension und wird sogleich das Bett mit ihm teilen.

 

Die historischen Koordinaten der real existierenden Personen sind verbürgt. Smolderen verschiebt sie jedoch nach Lust und kreativer Laune, wie sie ihm in seine Geschichte passen. So wie im Comic die Vorstellungskraft der Zugang zur vierten Dimension ist, so arrangiert der Autor sein Ensemble in der Wirklichkeit nach seinen Vorstellungen. Das lässt mich schmunzeln.

Die Frage, die ich nicht beantworten kann, lautet: Können Leser*innen etwas mit diesem Buch anfangen, wenn sie Winsor McCay und sein Werk nicht kennen?

Als Comichistoriker bin ich da völlig betriebsblind. Ich vermute, dass es geht. Aber es wird mühsamer sein. Der Plot dreht sich im Grunde um Anarchismus, einen Dimensionsverbrecher und ein geplantes Attentat.
Zwischendrin ist allerdings so viel von McCay: die Träume des Käseessers, Little Nemo in Person, die Slumberland-Architektur, die Bühnentournee, die Entwicklung des Trickfilms, Gertie the Dinosaur. Das ist eine Menge Fachwissen.

Das ist McCay, unterwegs in der vierten Dimension, die sich hier darstellt als Nemos Palast, auf dem Kopf stehend. Sowohl die Architektur wie auch die Zigarre sind Zitate aus LITTLE NEMO, die nur dem Fachmann erkenntlich sind. Die Zigarre übrigens weist auf den Nemo-Bösewicht Flip hin, der gleich in Gestalt von Silas auftauchen wird.

 

Zur Ehrenrettung von Smolderen/Bramanti muss man sagen, dass sie einen an der Hand nehmen: McCAY beginnt zu einer Zeit, in der Winsor noch kein Comiczeichner ist. Wir lernen ihn als Plakatmaler beim Zirkus kennen, er steigt auf zum Comicmacher, kommt zu Reichtum und Wohlstand. Auch gibt es drei Erklärseiten, in denen wir Little Nemo in seinem Palast und den Rarebit Fiend zu sehen bekommen:

Zugleich Fachgespräch über Zeitungsdruck und Einblick in zwei Schöpfungen McCays.

Um das genügt, um bei Nichtexpert*innen die nötigen Chiffren zu verankern, kann ich nicht beurteilen. Erkennen sie Little Nemo, wenn er woanders im Buch auftritt? Wissen sie, wann sie sich im Slumberland und seinem Palast befinden?

Ich jedenfalls war nahezu begeistert von McCAY. Ich habe mich intelligent unterhalten gefühlt, ohne vom Stoff überfordert zu sein. Was mich ein wenig mit Smolderen versöhnt (dem ich generell überkomplexe Handlungen vorwerfe).

Man darf nicht zu kritisch sein, denn logisch ist das alles nicht.

Vierte Dimension, tatütata!

 

Wie man da reinkommt, da wieder rauskommt, sich da drinnen bewegt, wie die überhaupt aussehen soll – wer das hinterfragt, ist verloren.

Ich hab mich drauf eingelassen. Sie kommen rein, sie kommen raus, sie machen was drin, okay. Ist doch hübsch eingebunden in McCays Träume und Traumcomics!

McCay übt Dimensionssprünge: Erst begegnet er einem seiner RAREBIT-Comicepisoden, dann fällt er real ins Zimmer der Träumerin, dann springt er zurück in die vierte Dimension. Ich find’s cool.

 

McCAY ist eine Graphic Novel, die erstaunlich durchgeknallt ist. Ich mag das. Sehr.

Kommt oberflächlich so seriös daher, erzählt von Zeichnern, Mathematikern, Exzentrikern, Politikern; das Ganze mit lässigem, expressiv-rohem Pinselstrich kunstvoll verbrämt.
How very artsy, how very graphic novel!

Dabei ist McCAY auch eine absolut wüste, ruppige, haarsträubende Räuberpistole um Kapitalismus, anarchistisches Aufbegehren, das Blendwerk der Kunst, Zerfall einer Ehe, ein Hauch von Kindermärchen und ein Politthriller aus der Twilight Zone sowieso.

Mir macht das richtig Spaß. Ich staune mehr und mehr, was Smolderen und Bramanti hier alles in den Topf geworfen haben. Passagenweise ist es auch Film noir!

Welcome to Arkham: McCay in der Zelle des Anarchisten Waslawczi, der übrigens Uncle Sam verblüffend ähnlich sieht. (Noch ein hintergründiger Witz von Smolderen/Bramanti.)

 

Wer noch eine andere Meinung zu McCAY lesen möchte, klicke bitte auf den Blog des Comicexperten Andreas Platthaus, der mit dem Werk seine Probleme hatte.

(Verschiedene Meinungen zu hören, reizt einen immer, sich selber ein Bild machen zu wollen.)

Verlagsinfos zu McCAY finden sie HIER.

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