Der Berg der nackten Wahrheiten

Der neue Bachmann!
(Das klingt so schön reißerisch nach Bestseller-Autor.)
Der neue Bachmann!
(Dabei ist es erst der zweite Comic, den der noch junge Schweizer Illustrator gestaltet!)

Der alte Bachmann jedenfalls, sein Erstlingswerk MÜHSAM – ANARCHIST IN ANFÜHRUNGSZEICHEN schlug vor etwas über einem Jahr ein wie eine Bombe. Und erntete hymnische Verzückung (auch) von meiner Seite.
Sogar auf meiner Seite, hier nachzulesen:

Mühsam – Anarchist in Anführungszeichen

 

Und auch DER BERG DER NACKTEN WAHRHEITEN enttäuscht mich nicht, sondern glänzt mit den bewährten Bachmannschen Qualitäten. Der Auteur/Zeichner lässt erneut seine intellektuellen Muskeln spielen und präsentiert uns in seiner kauzigen Grafik semifiktive Begebenheiten aus der Gegend um Ascona im Jahre 1900.

Eine Kommune aus Veganern (damals noch „Vegetabilisten“ genannt), Nudisten und Anarchisten lebt auf einem Hügel über dem Lago Maggiore. Tolle Kombination!

Im Plenum der Kommune diskutiert man Ansätze zur Weltverbesserung.

Da packt mich auch direkt die erste Bachmann-Verblüffung: Gewisse Leute waren doch vor langer Zeit schon weitaus radikaler drauf als heute! Oder kennen Sie solche Leute?

Der Stoff ist wieder mal schräg ausgewählt (Bachmann hat einige Recherche zum „Monte Verità“, so hieß der Hügel später, betrieben und mehrere Bücher gewälzt). Und wie schon bei MÜHSAM die Biografie verweigert wurde, ist DER BERG DER NACKTEN WAHRHEITEN auch keine Comicreportage über Proto-Hippies in der Schweiz.

Bachmann nämlich engt quasi introspektiv seinen Blick auf die Randfigur des Gustav („Gusto“) Gräser ein. Ein Gammler, der sich aus der stressigen Gemeinschaft (sehr lustig: Wer ist der heimliche Käse-Esser, nachdem anhand einer aufgefundenen Käserinde gefahndet wird?) rauszuhalten sucht und wirklich bloß – mit dem Kosmos im Einklang – nackt über die Wiesen tanzen will.

Die Eröffnungsseite von DER BERG DER NACKTEN WAHRHEITEN: Gusto tanzt.

 

Diesem Vogel läuft aus dem Dorf eine Ziege zu, die er als Weggefährtin annimmt und auf den Namen Parsifal tauft. Die nächste Bachmann-Verblüffung: Die Ziege war bloß neugierig und wollte (wie die meisten Dorfbewohner) die Spinner auf dem Hügel mal in Augenschein nehmen.

Die Ziege bekommt auch eine Stimme, sie denkt in gelben Sprechblasen, wie auch später ein Kollege, der Esel der Kommune, der die Latrinenfässer vom Berg transportieren muss.

Ziege und Esel schütteln ihre Köpfe über die „absonderlichen Haarmenschen“, die in dieser paradiesischen Umgebung dennoch unter dem Fluch der Vertreibung (Garten Eden) leiden – wie auch unter massivem Hunger. Als vegetabiler Anarchist setzt man kein Fett an und kämpft um jede fade Pastinake.

Abenteuer in der Latrinengrube.

 

Gusto Gräser möchte der Dorfgemeinschaft ihren Parsifal abkaufen, hat aber überhaupt kein Geld und offeriert stattdessen einen Nackttanz auf dem  Marktplatz von Ascona. Das kommt bei der Bevölkerung nicht gut an, zudem  er den Vorschlag während einer katholischen Messe unterbreitet.

Dem Pfarrer platzt der gestärkte Kragen. Rabiates Ende einer angekündigten Tanzperformance.

 

Im Fortgang des Comics versucht Gusto noch, einen verarmten Adeligen (den alkoholsüchtigen „Schnapsbaron“) mit einer hübschen Waschfrau aus dem Dorf zu verkuppeln. Ein Unterfangen, das ebenfalls grandios scheitert – allein an der Tatsache, dass besagte Isidora bereits verlobt ist.

So präsentiert DER BERG DER NACKTEN WAHRHEITEN ein skurriles Sammelsurium an Charakteren und enthält sich (auch das ein Bachmann-Markenzeichen) jeglicher Wertungen. Wie bei MÜHSAM begegnen wir Menschen, die Dinge tun, vornehmlich belanglose.
Aber so ist das Leben. Das ist die Wahrheit. Womöglich die nackte.

Die letzte Seite: Gusto, Parsifal und der Latrinen-Esel auf dem Weg in ein neues Paradies?

 

Nun noch warme Worte zum Artwork von Jan Bachmann, das mir ja bestens gefällt – weil es so ‚anti‘ ist! Es ist auf Deutsch gesagt unkontrollierbar. Ich frage mich schon, ob der Künstler es unter Kontrolle hat. Das Artwork von Jan Bachmann ist mehr ein epileptischer Anfall am Zeichentisch als eine wohltemperierte Komposition.
Es ist in gewisser Weise ‚krank‘, es lässt den Betrachter schwindeln – doch es ist immer organisch. So irre diese grafische Vision ist, es ist eine Vision (wenn auch eine schwer einzuordnende). Einzufangende? Wovon träumt dieser Mensch nachts?

Der Stil kommt mir zuweilen pseudokubistisch vor (in Ermangelung einer besseren Beschreibung), denn es sind unmögliche, groteske, lästerliche Gesichter, die uns von diesen Seiten anstarren.

Das ist ein Schock, ein Frevel, ein Bruch mit Konventionen, den vielleicht nicht viele Leser*innen mitgehen (von goutieren gar nicht zu reden). Meine Augäpfel stolpern auch auf jeder Seite und möchten sich aus dem Kopfe drehen, aber dann folgen zauberhaft wilde Landschaften oder skurrile Perspektiven in zwei Dimensionen, alles visuell versöhnlich, in ihrer Künstlichkeit und Kunsthaftigkeit entwaffnend.

Bachmann macht mich fertig mit seinen Bildern, aber es ist ein Genuss, auf diese Weise herausgefordert zu werden. Weirdo!

Und das ist mal eine Seite reine Landschaft. Erst denkt man „WTF?“, dann geht man drin verloren.

 

Erich Mühsam spielt leider nicht mit, wie ich nach Lektüre des MÜHSAM-Werks fälschlich gemutmaßt habe. Er ist jedoch in drei herrlich abfälligen Zitaten über die Kommune präsent: „Ehe hier Hotels und Kurhäuser entstehen, wollte ich lieber, dass einer der umliegenden Berge einen ungeahnten, mildtätigen Krater enthüllte, der noch vorher alle Lieblichkeit dieses Ortes in Lava und Asche ersäuft.“

Bachmann hat sich offensichtlich gegen einen Protagonisten Mühsam entschieden, es wäre auch zu viel Mühsam geworden. Clever dehnt der Zeichner die erzählerische Leinwand aus und skizziert uns mit Gusto Gräser eine andere Sichtweise.

Sein Panorama der Jahrhundertwende wird bereichert um neue Ausblicke und narrative Farbtupfer: Freaks im schweizerischen Exil, fernab der hysterischen Geschehnisse im Kaiserreich und in Resteuropa.
Diese Männer und Frauen suchen Frieden, Zusammenhalt, ein nachhaltiges Leben.
(Der ideale Soundtrack zu DER BERG DER NACKTEN WAHRHEITEN ist übrigens Herbert Grönemeyers „Mensch“, so erschreckend das sein mag, aber lassen Sie sich drauf ein.)

Diese Männer und Frauen wagen einen Entwurf, doch bleiben sie stecken im Klein-Klein der menschlichen Natur: Käseverzehr, Latrinendienst, Trunksucht, romantische Anwandlungen. Es kommt halt immer was dazwischen

Und wieder schaut Bachmann da hin, wohin niemand anders schauen würde, wenn er das Europa von 1900 behandeln wollte. Dieser Künstler wird fündig abseits der ausgetretenen Pfade. Er wühlt sozusagen im Altpapier der Geschichte, zerrt vergessene Schriften und Manifeste hervor. Genau mit dieser Methode entreißt Bachmann die allzu bekannte Historie einer Pauschalisierung auf eben das Bekannte.

Dass da aber noch so viel mehr passiert ist, und sei es null und nichtig, ist dennoch entdeckenswert und hat das Zeug, durch solche Entschleunigung unser kollektives Erregungsbewusstsein zu besänftigen.

Das ist der Zauber an seinen Werken. Für mich jedenfalls.

Gusto grübelt wenig produktiv über den Baron und die Waschfrau nach. Man beachte das kreative Panel 1: Wir schauen mit den Fischen auf Gustos Beine und ein Schlappohr der Ziege.

 

Zum Schluss seien Hardcore-Preis-Leistungs-Leser*innen gewarnt: DER BERG DER NACKTEN WAHRHEITEN bietet für seine 24 Euro nur 70 farbige Seiten netto.
Hinzu kommen 10 Seiten launige Werksnotizen vom Autor höchstselbst sowie  15 Seiten schwarzweißer, skizzenhafter Epilog: das Gespräch zwischen Investor und Architekt, das den ‚Ausverkauf‘ der Kommune und seine Wandlung zum Luxus-Spa dokumentiert.
(Kleine, böse Fußnote in vornehmstem Ton.)

24 Euro für 70nochwas Seiten?!
Jaha, das ist der Preis für … den neuen Bachmann!

Verlagsinfos HIER. Video mit Reinblättern hier: