Debatte: Was war denn nun die erste „Graphic Novel“?

Hunderttausend heulende Höllenhunde!

 

Eine in Verzweiflung endende Recherche über ein vermeintlich modernes Comicformat

Tja, diese Runde geht wieder mal an die Amerikaner. Die Erfinder der Comicmassenkultur und des Comicheftes dürfen auch die Kreation der „graphic novel“ für sich verbuchen. Und damit gemeint sind nicht Werke wie Alan Moores „Watchmen“ (1986), Art Spiegelmans „Maus“ (1980) oder Will Eisners „A Contract With God“ (1978) – die Anfänge reichen noch weiter zurück!

Leider waren es auch nicht die comicaffinen Nationen wie Franzosen, Belgier oder Italiener. Nicht Manara mit „HP e Giuseppe Bergmann“ (1978), nicht Moebius mit seiner „Garage Hermétique“ (1976), und auch nicht Pionier Hergé – es sei denn, jemand wäre so frech zu behaupten, sein erstes Tim-Fortsetzungsabenteuer „Tintin au pays de Soviets“ von 1929 sei die erste Graphic Novel der Comichistorie!
Hmmmm. Wahrscheinlich könnte man den Sack hier wirklich zumachen, denn unter DAS Datum kommen wir nicht mehr drunter.

Doch widerstrebt es mir, Tim diese Krone aufzusetzen. Dafür ist dieses Werk zu hastig produziert, zu schlecht illustriert worden. Also Ehre, wem Ehre gebührt! Wer isses denn nun?

Springen wir in fünf Sätzen in der Zeit zurück – zur ersten Graphic Novel.

  1. Will Eisner gehört erwähnt, denn sein „A Contract With God“ von 1978 bezeichnet sich selbst als „graphic novel“. Der Altmeister der Illustration und Großtheoretiker des Mediums will sein Werk damit von schnell konsumierbaren Serienheftchen abgrenzen und ihm Bedeutung über den Tag hinaus einhauchen.
  2. George Metzger, US-Underground-Zeichner, verwendet den Begriff „graphic novel“ auf dem Umschlag seines Comicwerks „Beyond Time and Again“ von 1976, aber wirbt damit nicht offensiv, sondern begreift dies nur als verspieltes Label. Auch Richard Corbens „Bloodstar“ aus demselben Jahr benutzt angeblich diese Bezeichnung auf seinem Innencover. Ähnliches wird behauptet über Jack Katz‘ Comicsaga „The First Kingdom“ (begonnen im Jahre 1974).
  3. Gil Kane veröffentlicht 1968 „His Name Is… Savage“, ein schwarz-weiß gedruckter One-Shot (ein „Einmalheft“, obwohl weitere Folgen geplant zu sein schienen) aus der Feder von Archie Goodwin. Dieser Detektivthriller läuft zwar nur über 40 Seiten, ist aber in sich abgeschlossen. Sie können meine Angaben im Netz überprüfen (Scan des Heftes ist hier einsehbar).

Dieser Comic-Krimi erzählt schon 10 Jahre vor Eisner eine abgeschlossene Geschichte

4. Richard Kyle erfindet den Terminus „graphic novel“ in einem Artikel für das US-Fanzine CAPA-ALPHA Nr. 2 im Jahre 1964. Er möchte damit dem anspruchsvollen Comic-Wirken Vorschub leisten. Auch das können Sie mit einem Internetanschluss nachprüfen.

5. Matt Baker und Ray Osrin zeichnen 1950 für den St. John-Verlag den 130-Seiten-Comicroman „It Rhymes With Lust“. Das von Arnold Drake und Leslie Waller verfasste Skript um politische Intrigen und persönliche Leidenschaften ging (in Schwarz-Weiß) für 25 Cent an die Kioske und sollte dem Medium Comics mit seinem „Paperback-Look“ neue Kunden erschließen.

Ta-daa! Die erste verdammte Graphic Novel – in meinen Augen. Schlagen Sie nach in der amerikanischen Wikipedia (die deutsche hat von Comics wenig Ahnung)  oder sehen Sie sich Infos zum Heft in der Online-Datenbank bei comics.org an

Ein Vorschlag für die „erste“ Graphic Novel

 

„It Rhymes With Lust“ (höchst seltsamer Titel, übrigens, was sich hier so schlüpfrig reimt, ist der Name der Hauptfigur, Rust…), egal, Folgendes ist ausschlaggebend: „It Rhymes With Lust“ wurde annonciert als „picture novel“ (!) und sollte das erste einer Serie von solchen original als Comic umgesetzten Romanen/Groschenheften werden. Konzept und Name (naja, fast) einer Graphic Novel sind damit bereits 1950 geprägt und realisiert.

Dieses Comicbüchlein will schon 1950 eine „picture novel“ sein!

 

Der Verlag St. John machte damit eine Bauchlandung und war seiner Zeit offenbar weit voraus. Was sie aber nicht davon abgehalten hat (Achtung, comichistorische Fußnote folgt), 1953 das 3-D-Comicheft zu entwickeln. Eine nächste Pionierleistung, die ebenfalls in die Hose ging, weil kurz darauf mehrere andere Verlage den Markt mit eigenen 3-D-Produkten überschwemmten. Die Konkurrenz fabrizierte meist in minderwertiger Qualität, was die Leser rasch abstraften. Zudem war es eine Mode, die nur einen Sommer lang dauern sollte.

Graphic Novels hingegen sind eine Mode, die sich seit etlichen Jahren auf dem Markt behauptet. Wir Deutschen brauchen dieses Label offenbar, um Comics ernst nehmen zu können (Präsenz im Buchhandel und so). Ich tu mich schwer damit, manche „graphic novels“ noch als „Comics“ zu bezeichnen oder gar zu identifizieren. Manchmal ist Graphic Novel einfach nur langweilige Kunstkacke. Entschuldigung. Das musste mal raus.

Lars von Törne beklagte im TAGESSPIEGEL, dass sich Graphic Novel als Kampfbegriff in Abgrenzung zu vermeintlich minderwertigen Comics durchzusetzen beginnt. Eine unheilvolle, spalterische Entwicklung (siehe den Artikel online). Ich ergänze: Comicferne Illustratoren erheben sich mit ihren schnöseligen artsy-fartsy-Bildromanen über die Comicproduzenten – und beißen die Hand, die sie füttert!

Wer hat euch Kreidezeichnern denn die Tür zum Markt geöffnet, häh?!

Zurück zur Sachlichkeit und einer transatlantischen Begriffsverwirrung. Was wir Europäer „Album“ nennen, ist für die Amerikaner „graphic novel“. Eine US-amerikanische „graphic novel“ wie „His Name Is… Savage“ (s.o.) ist in Europa ganz klar ein Album. Letztlich lassen sich Album und Graphic Novel definitorisch nicht trennen! Denn „graphic novel“ ist ein Formatbegriff, kein Inhaltskriterium (s. auch Ausführungen bei Törne).

Deshalb bin ich froh, mit „It Rhymes With Lust“ ein Werk schon von 1950 vorschlagen zu dürfen. Das heißt, Moooment… Wann haben die Franzosen begonnen, die Serien aus SPIROU und TINTIN als Alben nachzudrucken? Könnte knapp werden… Ah, der Krieg hat sie aufgehalten. Veröffentlichung des „Journal de Tintin“ 1946, Hergé gründet sein Studio 1950… Ich suche weiter in meiner geliebten Datenbank… und finde…

Alarm! Der belgische Verleger Casterman wirft seit Mitte der 1930er Jahre „Les Aventures de Tintin“ im Albumformat auf den Markt – Aaaarrggghhh! Zum Beispiel „Tintin au Congo“ 1937, „Tintin en Amérique“ sowie „Les Cigares du Pharaon“ angeblich schon 1934 (Daten entnommen der Grand Comics Database: http://www.comics.org/series/69/) – ist das denn alles wahr?!
Doch Hergé, ich komme ins Schleudern …

Ich geb’s auf! Ich passe! Je nach Definitionslage wird man „Max und Moritz“ zur ersten Graphic Novel erklären können! Ich verwerfe den Begriff! Ich will nicht mehr!

Ich weiß nur eins: Ich liebe Comics. Und die gibt es in Zeitungen (als Strips oder Sonntagsseiten), in Heften (als Short Stories oder Serien) und als Alben (dünnere oder dickere). Aus. Fertig. Reicht.

Welch schöner Moment der Ruhe und des Friedens. Genießen Sie ihn. Denn die irre machende Anschlussfrage muss unweigerlich heißen: Hey, was ist denn eigentlich ein „Comic“???