Das Fleisch der Vielen

Bitte ergänzen Sie folgenden Satz:

Das Fleisch der Vielen …

  1. erklärt das Übergewicht der Bevölkerung.
  2. verdeckt den Blick aufs Meer.
  3. stillt den Hunger des Kollektivs.

Na, was glauben Sie? Schnellschnell.
Richtig ist: 3. Das Fleisch der Vielen stillt den Hunger des Kollektivs.

Wieso witzele ich hier eingangs so herum? Weil dieser Comic überall hoch gelobt wird, dennoch Anlass zu Differenzierung bzw. leiser Kritik liefert (die ich zumindest anzubringen versuchen möchte).

Für einen ersten Eindruck und zur Zusammenfassung der Handlung bitte ich Sie, sich den Zwei-Minuten-COMICtalk-Vorstellungstrailer zu DAS FLEISCH DER VIELEN anzuschauen. Ich werde im Anschluss näher auf Zeichnungen und Text eingehen …

Kommen wir zunächst zum Look des Comics.

Kulturblogger Matthias Penkert-Hennig von deinantiheld.de versuchte (bislang als einziger), im COMICtalk Kritik anzubringen, wurde aber überrollt von der tosenden Zustimmung der restlichen Runde, bestehend aus Hella von Sinnen, Naomi Fearn und Torsten Sträter. Sein Einwand: Das Artwork von Jurek Malottke sei ihm „zu skizzenhaft“.
Die vornehme Art auszudrücken, die Zeichnungen seien flüchtig, krude, ungenügend.
Es ging mir ähnlich! Ich verstehe Penkert-Hennigs Missfallen, denn auch ich hatte in den Band hineingeblättert, ihn dann wieder weggelegt, weil mir das Artwork zu skizzenhaft war! :- )

Dann geschah etwas Kurioses: Splitter übersandte mir ein Presseexemplar, ich konnte mich eingehend mit DAS FLEISCH DER VIELEN beschäftigen – und ich revidierte meine Meinung. Gewissermaßen. Denn:

Ich bebildere diesen Artikel mit fotografierten Doppelseiten, das zeigt die Komposition des Bandes auf …

 

Die Zeichnungen SIND skizzenhaft, hier besonders ausgeprägt im Mittelteil, das macht Malottke aber wett durch kreative Kompositionen und clevere Farbgestaltung!

Zudem passt das Ungefähre seines Stils auf einen Gang durch ein stockfinsteres Gruselhotel; das Horrorgenre erlaubt ein Arbeiten mit visuellen Andeutungen, bleibt doch vieles der Fantasie der Leserschaft überlassen. Sooo genau will man „das Böse“ auch nicht sehen.
(Ein Western- oder Abenteuercomic in diesem Stil würde womöglich als Frechheit empfunden.)

Wie dem auch sei: Jurek Malottke heißt der Zeichner, noch jung an Jahren (27) und fast ein Comicdebütant. Er habe bislang nur das Werk UM DEN FLUSS im Eigenverlag vorgelegt (davon hat aber noch nie jemand gehört).
Malottke scheint richtig geil malen zu können, wie sein Charakterentwurf zu Jana beweist.

Charakterentwurf zur Figur Jana

Ich spreche ihm die Fähigkeit zu, Comics zu beherrschen (nicht jeder Maler ist ein Illustrator, nicht jeder Illustrator ist ein Comiczeichner), denn Malottke arbeitet jede Seite anders und er hat ein Verständnis für (künstlerische) Komposition, Timing, Bildausschnitte, Kamera und vor allem auch für Lichtsetzung.
Das freut mich sehr, das ist alles andere als selbstverständlich.

DAS FLEISCH DER VIELEN ist ein kunstvolles Album geworden (auch wenn man das „Skizzenhafte“ abkönnen muss bzw. würdigen kann).
Malottke hat eine Vision und die gestaltet er in sich stimmig!
Das zählt letztlich und gibt den Ausschlag für einen (ich finde schon objektiv begründbaren) „Daumen hoch“.

Was ist denn jetzt nun aber mit der Kritik?

 

Ich möchte da mal die Handlung ins Auge fassen.

Ein junges Paar flüchtet sich vor einem Mob in ein leer stehendes Hotel. Da spukt es drinnen. Okay, gekauft. Schöne Idee.
Tim und Jana glauben, die schemenhafte Gestalt eines Buckligen wahrzunehmen, die sich als Abdruck im Mauerwerk niederschlägt.
Okaaay, wer ist der Bucklige und weshalb rubbelt er sich gerne an Wänden?
Wird nie erklärt.
Jana ekelt sich vor (fremden) Haaren. Die beiden dringen in das Innere des Hotels vor und finden überall Haare auf den Fluren verteilt. Dann fallen noch Haare von der Decke.
Na gut, Jana ist putzneurotisch und der Hygienestandard des Hotels mangelhaft.

Der Einstieg ins Hotel; links Rückblenden in Sepiafarben.

 

Beide stoßen auf einen Korridor voller Telefone. Die fangen plötzlich an zu schellen.
Nanu, ist es die Putzkraft, die wieder mal ihr Kommen absagt?
Stattdessen wird es wild: Lebende Haare greifen in Massen an, Tim verschmilzt mit dem Buckligen und gibt die Parole vom „Fleisch der Vielen“ aus, das „den Hunger des Kollektivs stille“.
Die Gestalt verschleppt Jana, die von Haaren überwuchert wird. Es sind die Haare des Kollektivs. Das Kollektiv sind die Geister aller Gäste, die im Hotel Haare gelassen haben und nun hungrig sind.

Okaaay…. Neeee! Wat ist kaputt?!
Tim wird zum Horrorhandlanger? Jana soll dem haarigen Kollektiv geopfert werden? Dass sich wie genau gegründet hat? Und telepathisch mit Janas Haaren kommuniziert oder wie?

Jetzt mal ehrlich, Freunde: Dieser Horror ist …

… an den Haaren herbeigezogen!

 

Kai Meyers Horror folgt nicht der westlichen Schule der rationalen Erklärung. DAS FLEISCH DER VIELEN bedient das asiatische Horrorkonzept, das uns gnadenlos mit Irrsinn konfrontiert. Hey, völlig in Ordnung, wer drauf steht …
Ich tu mich schwer. Ich bin ein Hardcore-Ursache-Wirkungs-Erschauderer.

Ich krieg’s mir auch nicht zurecht gereimt. Die Haar-Reste Tausender Hotelgäste überleben (?) im Keller, verschwören sich (??) gegen die Außenwelt und führen sich überhaupt auf wie eine Rockgruppe auf Tournee/ Toupet (???).

Kundenbeschwerde auf yelp.de:
„Furchtbarer Zustand des Zimmers: Haarbüschel unterm Bett, in der Dusche, selbst auf dem Fensterbrett. Aus dem Obst in der Willkommensschale sprossen feine Härchen!
In der Minibar fanden sich nasse Haare.
Die Schokolade auf dem Kopfkissen bestand komplett aus Haaren! Außerdem war das Telefon kaputt. Komme nie wieder. Null Sterne.“

Kein Wunder, dass der Laden geschlossen wurde!

Sie wollten 132-mal geweckt werden? Der Korridor der Telefone!

Waschen, legen, föhnen, bitte!

 

Dieser Spott ist bitteschön nicht bös gemeint, denn ich habe durchaus meinen Spaß am  FLEISCH DER VIELEN.
Meyer treibt die Handlung zielführend und gesteigert auf ein rasantes, ja rassiges Finale hin. Und fürchten oder ekeln kann man sich zwischendrin auf jeden Fall.
Seine Figuren sind lebendig und meisterlich gezeichnet. Der Stoff ist originell und plakativ und memorabel. Dass das Ganze nicht logisch ist, kann selbst ich verschmerzen.

Also, Fleischfreunde und Haarfetischisten, mein Fazit:
Der Splitter Verlag spendiert ein tolles Hardcover von 66 Seiten plus etliche Seiten mit Zusatzmaterial, darunter den Abdruck von Kai Meyers ursprünglicher Kurzgeschichte! Daran lässt sich studieren, wie die grafische Adaption erfolgte, was fehlt bzw. was hinzugekommen ist.

Es geht zu Ende: Die überwältigte Jana wird von Visionen heimgesucht. (Schönes Beispiel für Malottkes Fusion diverser Techniken.

 

Dazu noch zwei persönliche Beobachtungen: Was FEHLT ist, woher die Taschenlampe kommt. Im Comic liegt die einfach so da, in der Geschichte wird angedeutet, dass ein Neonazi vor unseren beiden Hauptfiguren in das Gebäude eingedrungen ist (womöglich um sie dort zu überfallen), aber diese Person fand bereits ihr schmähliches Ende

Was Malottke HINZU ERSCHAFFT, ist ein Schlussbild, das für mich einen tollen Mehrwert präsentiert. In Meyers Text lautet der letzte Satz, beinahe spröde:
Jana […] stürzte in einen Menschenpulk, nur mehr ein Fleisch unter vielen.“

Im Comic erleben wir dies als eine volle Seite in blau-lila-schwarz-Tönen, eine Vogelperspektive aus Janas Sicht, dazu schweben Glasscherben durchs Bild – und wir schauen stürzend auf die Teilnehmer der Demonstration hinunter.
Damit verlassen wir unsere Heldin Jana (nicht mehr im Bild) und begegnen der Außenwelt, dem Kollektiv, UNS sozusagen und springen zugleich an den Anfang der Erzählung zurück. Es könnte, mit anderem Personal, wieder von vorne losgehen

Mich hat dieser Sprung (mehrdeutig) sehr beeindruckt.

DAS FLEISCH DER VIELEN ist ein tauglicher Horrorcomic, den man vielleicht ein wenig für sich entdecken muss und den man garantiert mit Vergnügen ein zweites Mal lesen kann.
Ach, wenn mir nicht andauernd die Haare in die Augen fielen …!

Hiiilfääääääää!